Neukölln ist überall (German Edition)
einrichten.
Unsere Staatsministerin für Integration, Prof. Dr. Maria Böhmer, sagt stets zu mir: »Die Bundesrepublik besteht nicht nur aus Neukölln.« Ich habe diese Aussage im Atlas überprüft. Sie ist fachlich nicht zu beanstanden. Gleichwohl räumt Frau Prof. Böhmer damit indirekt ein, dass meine Darstellungen des Alltags in Großstadtlagen mit starker Einwandererbevölkerung durchaus den Tatsachen entsprechen. Trotzdem gibt es recht wenige Stadt- und Kommunalpolitiker, die einer ungeschminkten Betrachtungsweise zuneigen. Wenn wir bei der Vollversammlung des Deutschen Städtetages unter 1500 Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern im Smalltalk unsere Erfahrungen austauschen, so sind diese und damit auch unsere Sorgenkinder recht identisch. Allerdings werden die Probleme umso kleiner, je dichter ein Mikrophon oder ein Stenoblock kommen. Am Schluss bleiben häufig nur das wunderbar gelungene multikulturelle Straßenfest oder die genialen Tore von Mesut Özil bei Europa- oder Weltmeisterschaften übrig.
Erklären lässt sich das Phänomen leicht. Städte stehen insbesondere in Ballungsräumen in harter Konkurrenz zueinander. Ein Bürgermeister, der alle Fakten auf den Tisch legt, eventuell noch zugibt, dass sich die Probleme allenfalls schrittchenweise und im Schneckentempo lösen lassen, oder die Hilflosigkeit der Stadtpolitik gegenüber dem einen oder anderen Sachverhalt eingesteht, der hat keine lange Halbwertszeit. »Nestbeschmutzer« wird man ihn schimpfen, man wird ihn dafür verantwortlich machen, dass bei der Ansiedlung eines Unternehmens mit 200 neuen Arbeitsplätzen ein halbes Jahr zuvor eine Nachbarstadt die Nase vorn hatte. Alle Fehlentwicklungen der jüngsten Vergangenheit vor dem anstehenden Wahltermin wird man ihm und seinem Alarmismus ankreiden, denn so schlimm ist doch alles gar nicht. Selbstredend wird der Gegenkandidat oder die Gegenkandidatin verkünden, mit der Miesmacherei sei jetzt endlich Schluss, und ab sofort gehe es wieder bergauf.
Die beschriebenen Mechanismen und dazu noch die sogenannte Political Correctness, parteiinterne Programmatik und gegebenenfalls auch persönliches Selbstverständnis oder Konfliktscheue führen im Endeffekt dazu, dass das Thema Integration in Verbindung mit Fehlentwicklungen in der Öffentlichkeit nur unterbelichtet und wenn, dann immer mit Bezug auf andere diskutiert wird. Entlädt sich die wahre Stimmungslage durch ein auftauchendes Ventil wie zum Beispiel ein Buch oder Sammlungsversuche meist älterer Männer zu einer politisch stets scheiternden Bewegung, dann regieren nur noch organisierte aufgeregte Empörung und hysterische Pseudobetroffenheit.
So kam Neukölln zu seinem Mythos als Alleinstellungsmerkmal. Dabei sind wir völlig normal. Jedenfalls unterscheiden wir uns nicht groß von anderen Städten mit gleichen oder ähnlichen Bevölkerungsstrukturen. Dessen ungeachtet wollen viele Buspauschalreisen oder politische Exkursionsgruppen einen Besuch des Bezirks Neukölln als Art Gruselfaktor im Programm nicht missen. Aber es gibt auch die, die Neukölln toll finden. Der Papst zum Beispiel. Er hat seine Nuntiatur nach Neukölln gelegt. Es ist die einzige Botschaft innerhalb unserer symbolischen Stadtmauern. Päpste haben eben Weitblick. Oder die niederländische Königin Beatrix. Sie bestand bei ihrem Staatsbesuch darauf, Neukölln kennenzulernen. Königin Silvia von Schweden und Kronprinzessin Viktoria konnte man in Neuköllner Jugendeinrichtungen ebenfalls bewundern, genauso wie die gesamte erste Reihe der deutschen Politik. Kanzler und Kanzlerin, Minister und Ministerinnen, Partei- und Fraktionschefs, sie alle waren und sind uns offiziell wie inoffiziell immer herzlich willkommen. Bundespräsident Köhler hielt in Neukölln seine berühmte Rede zur Bildungspolitik, Bundespräsident Rau nahm hier ein Bad in der Menge, und den Bundespräsidenten a. d. von Weizsäcker kann man heute noch im Theater Heimathafen treffen.
Der Spiegel bezeichnete Neukölln schon 1997 als Endstation. Andere Publikationen fanden, dass wir den Untergang der Zivilisation verkörperten oder die europäische Bronx seien. Na ja, viel herumgekommen scheinen diese Schreiberlinge nicht zu sein. Der Europarat zeichnete uns 1987 für »außergewöhnlichen Leistungen zur Förderung des europäischen Einigungsgedankens« mit dem Europapreis aus und berief uns 2008 als einzige deutsche Stadt in den Kreis der »Intercultural Cities«.
Größer kann die Bandbreite nicht sein. Vom
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