Neukölln ist überall (German Edition)
auch der Anteil der migrantischen Schüler in unseren Schulen explosionsartig. Ebenso ging diese Entwicklung nicht spurlos an unseren Jugendclubs vorbei. Ich kann das aus meiner beruflichen Tätigkeit als damaliger Jugenddezernent bestätigen. Zu jener Zeit begannen wir kleine Stadtteilläden verstreut im gesamten Norden einzurichten, die sich an die jungen Leute des direkten Wohnumfelds richteten. Die durchaus auch ethnisch ausgerichtet waren, weil sich bereits damals die Jugendlichen nur äußerst ungern mischten.
All dies ging einher mit Veränderungen der lebensweltlichen Rahmenbedingungen. Nach dem Mauerfall 1989 drehte der damalige Bundesfinanzminister Theo Waigel kurzerhand den Hahn der Berlin-Förderung zu. Berlin sei jetzt eine normale Stadt und müsse sich selbst ernähren, sagte er. Die Zeit des Pamperns als Bollwerk gegen den Kommunismus sei vorbei. Dies hatte als erstes nach dem Flashlight-Effekt der alles konsumierenden DDR -Bürger zur Folge, dass die Arbeitsplätze der verlängerten Werkbank Berlin (West) wegbrachen. Sobald die Subventionen nicht mehr flossen, verloren die Firmen schlagartig das Interesse an ihren Zweigniederlassungen in West-Berlin. Allein im verarbeitenden Gewerbe fielen in den 1990er Jahren fast 60 % der Industriearbeitsplätze weg. Neukölln als starker Standort der Nahrungs- und Genussmittelindustrie bekam eine volle Breitseite ab. Etwa 20 000 Arbeitsplätze verschwanden von heute auf morgen. Viele entstanden wieder neu, nur nicht bei uns. Sondern dort, wo die Arbeitskraft der Menschen billiger zu haben war.
Die spektakulärsten Fälle waren wohl Alcatel und Milka Lila Pause. Das eine, ein gesundes Werk der Metallindustrie mit vollen Auftragsbüchern, wurde vom französischen Mutterkonzern zur Jahrtausendwende gekillt und ein paar Kilometer weiter in Poznan wiederaufgebaut. Ein Arbeiter kostete dort nur ein Drittel des Lohns seines Neuköllner Kollegen. Mit Lila Pause überschwemmten wir halb bis ganz Europa. Als das riesige, mit hohem Investitionsaufwand errichtete modernste Schokoladenwerk Europas 1994 geschlossen wurde, war es gerade einmal vier Jahre in Betrieb. Ich hatte mit den Grundstein gelegt, das Richtfest gefeiert und die Inbetriebnahme. Von der Licht-aus-Aktion erfuhr ich aus der Presse. So »nachhaltig« sind staatliche Subventionen.
Die Entwicklung zum sozialen Brennpunkt von Nord-Neukölln hatte also verschiedene Ursachen. Bildungsaffine Familien mit beruflichen Kompetenzen und gesunder wirtschaftlicher Grundlage verließen das Gebiet, Arbeitsplätze wurden abgebaut, Menschen verloren ihre wirtschaftliche Basis und damit ihre Liquidität. Bildungsferne Familien zogen zu, destabilisierten das soziale Gefüge und dominierten nach und nach das Quartier. Das entsprechend gewandelte Konsumverhalten der Anwohner sowie die beginnende Verwahrlosung des öffentlichen Raums machten den Einzelhandelsstandort unattraktiv und führten zu starkem Kunden- und Umsatzrückgang. Ein Geschäftesterben setzte ein.
Die Karl-Marx-Straße war trotz ihres Namens einmal einer der attraktivsten Handelsorte im Westen der Stadt. Sie konkurrierte stets mit der Steglitzer Schloßstraße darum, wer hinter dem Kurfürstendamm und der Wilmersdorfer Straße Platz 3 im Ranking einnimmt. Bei Schuhen und Unterhaltungselektronik war die Karl-Marx-Straße das Maß aller Dinge. Hier präsentierten sich ganze Branchen. Heute ist der einstige Einkaufsboulevard nur noch ein Schatten seiner selbst. Der frühere Glanz musste der Tristesse weichen. Handyläden, Billiganbieter, Tag-und-Nacht-Geschäfte, Spielhallen und Wettbüros prägen das Stadtbild, und nur wenige Fachgeschäfte von früher haben überlebt. Auf der drei Kilometer langen Straße sind es von einst 400 nicht mehr als ein gutes Dutzend. Meist steht hier das gesamte Haus im Eigentum, so dass nur eine steuerliche Miete anfällt, oder die Besitzer sind zu alt, um sich noch einmal zu verändern. Mitunter wird das Geschäft allein aus Tradition aufrechterhalten und durch Erträge aus anderen Unternehmungen quersubventioniert.
In der Hermannstraße und der Sonnenallee, den beiden anderen Hauptverkehrsstraßen, ist die Entwicklung identisch. Die Hermannstraße fällt vor allem durch reißerische Leuchtreklame an fast 40 Geschäften auf, die die Möglichkeit zum Wetten und Spielen bieten. Obwohl es zu 90 % nur Pseudo-Spielhallen sind, so ist das aggressive Erscheinungsbild doch prägend für den gesamten Straßenzug. Sie müssen schon
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