Neuromancer-Trilogie
erste »Dotcom-Blase« bereits geplatzt ist und man sich rührig bemüht, der »Informationsflut« didaktisch beizukommen, mit der Neuromancer-Trilogie?
Ganz klar: Wir sollten sie immer wieder lesen.
Und wir sollten sie einsortieren in die Reihe jener großen Klassiker der Weltliteratur, die der Menschheit etwas über sich selbst erzählen – etwas, das so vorher noch nie erzählt wurde.
Im Laufe der Rezeptionsgeschichte wurde William Gibson immer wieder vorgeworfen, die virtuelle Welt, die er in der Neuromancer-Trilogie beschreibt, zu verherrlichen, weil seine
Helden – allen voran Case – sich danach sehnen, die digitalen Räume nicht nur zu bereisen, sondern eins mit ihnen zu werden. »Der Körper war nur Fleisch. Und nun war Case ein Gefangener seines Fleisches«, heißt es in »Neuromancer«, und diesem Gefängnis der Körperlichkeit wird die grenzenlose Freiheit gegenübergestellt, die die Konsolen-Cowboys im unendlichen Raum der Matrix genießen. »Allzuoft«, so die Wissenschaftsjournalistin Margaret Wertheim, »verrät die cyber-religiöse Träumerei eine Tendenz, Verantwortung auf irdischer Ebene aufzugeben.« Und tatsächlich: KI-Propagandisten und Theoretiker des »Posthumanen« sahen und sehen in Gibson eine Art literarischer Referenz für eine paradiesische Zukunft, in der wir von der Bindung an einen physischen Körper befreit sein werden.
Ein Missverständnis. Natürlich sind die Neuromancer-Romane bevölkert von Personen, die in den Cyberspace geladen werden und bisweilen auch in die digitale Unendlichkeit eingehen, aber Gibson macht nie einen Hehl daraus, dass die virtuelle Person nicht die wirkliche Person ist, dass es in der Cyber-Welt, ja in jeder Art von »enhanced reality«, um ganz profane Machtfragen geht, und dass – obwohl uns die KI namens Neuromancer vom Gegenteil überzeugen will – nicht alle Aspekte der Realität berechenbar sind.
Doch er macht sich auch keine Illusionen über die menschliche Natur. »Wir diskutieren diese Dinge«, so der Autor, »als wäre die Menschheit noch in einem vollkommen natürlichen Zustand. Wir haben alle Metall in unseren Zähnen – ich hätte sonst überhaupt keine Zähne mehr. Wir sind immun gegen Krankheiten, die früher Millionen von Menschen das Leben gekostet haben. Die Technologie verändert unsere Körper.« Noch ist die Technik nicht mit unserem Köper verschmolzen, aber längst registrieren wir Softwareredundanzen mit zunehmender Ungeduld, verlangen wir nach ständigen »Updates«, erscheinen uns die Desktop-Computer, die wir benutzen, bereits
jetzt schon erschreckend gestrig. Geben wir’s zu: Wir alle träumen Cyber-Träume. Wir wollen keine Windows-Fenster mehr, die uns ab und an einen Einblick gewähren – wir wollen Operatoren für den Grenzverkehr zwischen den Kommunikationswelten. Und man muss kein großer Visionär sein, um zu erkennen: Diese Operatoren werden erst Brillen sein und dann irgendwann ein Gerät, das an der Schnittstelle von Gehirn und Computer angebracht wird.
Was seine Extrapolationen betrifft, hat William Gibson immer strikt nachfrageorientiert gedacht: Niemand wird eine Zukunft, in der es Genindustrien, die Konstruktion neuer Lebensformen, nanotechnologischen Materieumbau und eine virtuelle Parallelrealität geben wird, aufhalten. Und niemand wird diese Zukunft verstehen. In den Worten des Finnen:
»Sachen gibt’s draußen. Geister, Stimmen. Warum auch nicht? In den Ozeanen gab’s Meerjungfrauen und all so’nen Scheiß, und wir haben ein Silizium-Meer, nicht? Sicher, ist nur’ne künstlich erzeugte Halluzination, an der wir alle gemeinsam teilzunehmen beschlossen haben, der Cyberspace, aber jeder, der einsteckt, weiß verdammt gut, dass er ein ganzes Universum ist. Und mit jedem Jahr wird’s ein bisschen voller da drin.«
In den Neuromancer-Romanen ist der Cyberspace eine Metapher für einen Raum, in dem die Hierarchien der Kommunikation nicht nur implodiert sind, sondern die Kommunikation selbst eine Form angenommen hat, die einem Angriff auf das zerebrale System gleichkommt. Und für einen Raum, der nichts mehr und schneller produziert als Vergangenheiten – vergangene Zukünfte.
Ein Raum voller Echos. »Man lese«, schreibt Jack Womack, »Gibsons Bücher, gerne mehrmals, und man wird feststellen,
wie viele Bezüge es gibt auf Vorkommnisse und Begebenheiten, die sich zu nicht genau definierten Zeiten vor Beginn der Handlung ereignet haben, wie viele nostalgische Erinnerungen an
Weitere Kostenlose Bücher