Neuromancer-Trilogie
Junge!«
Case nickte. Er hatte es auf einmal sehr eilig.
Als die Plastiktür hinter ihm zufiel, blickte er zurück und sah ihre Augen im Spiegel, umschlossen von rotem Neon.
Freitagnacht auf der Ninsei.
Vorbei an Yakitoribuden und Massagesalons, einem Café der Franchisekette Beautiful Girl, dem elektrischen Getöse einer Spielhalle. Er trat zur Seite, um einen dunkelgekleideten Sararimann vorbeizulassen, einen typischen Angestellten, und erhaschte dabei einen Blick auf das Mitsubishi-Genentech-Logo, das in seinen rechten Handrücken eintätowiert war.
War das echt? Falls ja, dachte Case, kriegt er Ärger. Falls nicht, geschieht’s ihm recht. MG-Angestellten ab einer bestimmten Stufe waren moderne Mikroprozessoren implantiert, die den Mutagenspiegel im Blut regulierten. Mit einem solchem Gerät konnte man in Night City sehr schnell unter die Räder geraten und in einer schwarzen Klinik landen.
Der Sararimann war Japaner gewesen, aber das Ninsei-Volk bestand aus Gaijin, Ausländern. Matrosengruppen vom Hafen, einzelne Touristen, auf der Jagd nach Vergnügungen, die in keinem Reiseführer standen, schwere Jungs aus dem Sprawl, die mit Transplantaten und Implantanten protzten, und Dutzende Arten von Gaunern – ein einziges großes Gewimmel, ein komplizierter Reigen von Lust und Geschäft.
Es gab zahllose Theorien darüber, warum Chiba City die Enklave der Ninsei duldete, aber Case neigte zu der Ansicht, dass die Yakuza diesen Ort gewissermaßen als historischen Park erhielten, als Denkmal für ihre bescheidenen Anfänge. Andererseits leuchtete ihm auch ein, dass der technische Fortschritt Freiräume brauchte, dass Night City nicht wegen seiner Bewohner existierte, sondern als bewusst ungeregelte Spielwiese der Technologie.
Als er zu den Lichtern hinaufblickte, fragte er sich, ob Linda Recht hatte. Würde Wage ihn umlegen lassen, um ein Exempel zu statuieren? Das kam ihm ziemlich unsinnig vor, aber Wage handelte ja auch vornehmlich mit rezeptpflichtiger Bioware, und es hieß, wer so was tat, musste verrückt sein. Doch Linda meinte, dass Wage seinen Tod wollte. Cases wichtigste Einsicht in die Dynamik der Straßendeals lautete, dass er weder vom Käufer noch vom Verkäufer wirklich gebraucht wurde. Das Geschäft eines Mittelsmannes besteht darin, sich zu einem notwendigen Übel zu machen. Die fragwürdige Nische, die Case sich in der kriminellen Ökologie von Night City geschaffen hatte, war durch Lügen aufgetan und Nacht für Nacht durch Betrügereien ausgebaut worden. Als er nun spürte, dass ihre Mauern zu bröckeln begannen, empfand er eine seltsame Euphorie.
In der Woche davor hatte er den Weiterverkauf eines synthetischen Drüsenextrakts verzögert und ihn mit einer größeren Gewinnspanne als üblich in kleinen Portionen verhökert.
Er wusste, das hatte Wage nicht gefallen. Wage, seit neun Jahren in Chiba und einer der wenigen Gaijin-Dealer, denen es gelungen war, mit dem starr hierarchisch gegliederten kriminellen Establishment jenseits der Grenzen von Night City Kontakte zu knüpfen, war sein wichtigster Lieferant. Gen- und Hormonmaterial sickerte durch ein kompliziertes, gestaffeltes System aus Strohmännern und Tarnfirmen in die Ninsei. Irgendwie hatte Wage es einmal geschafft, etwas zurückzuverfolgen, und nun erfreute er sich dauerhafter Beziehungen in einem Dutzend Städten.
Case ertappte sich dabei, wie er in ein Schaufenster starrte. In dem Laden wurde bunter Krimskrams an Matrosen verkauft. Uhren, Klappmesser, Feuerzeuge, Taschenvideorecorder, Simstim-Decks, beschwerte Manriki-Ketten und Shuriken. Die Shuriken, stählerne Sterne mit messerscharfen Spitzen, hatten es ihm schon immer angetan. Die einen waren verchromt, die anderen schwarz, wieder andere mit einem regenbogenähnlichen Film wie Öl auf Wasser beschichtet. Aber die verchromten Sterne fesselten seinen Blick. Sie waren mit fast unsichtbaren Nylonschlingen auf scharlachrotem Ultravelour befestigt und in der Mitte mit Drachen oder Yin-Yang-Symbolen geprägt. Sie warfen das Neonlicht von der Straße verzerrt zurück, und Case kam auf einmal der Gedanke, dass dies seine Leitsterne waren, sein Schicksal in Gestalt einer Konstellation aus billigem Chrom.
»Julie«, sagte er zu seinen Sternen. »Zeit, den alten Julie zu besuchen. Der weiß bestimmt Bescheid.«
Julius Deane, dessen Stoffwechsel allwöchentlich mit einem Vermögen an Seren und Hormonen gewissenhaft zurechtfrisiert wurde, war hundertfünfunddreißig Jahre alt.
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