Neva
werden. Nur reicht mir das nicht mehr.
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3 . Kapitel
A m nächsten Morgen stehe ich früh auf, um Sanna am Grab ihrer Mutter zu treffen. Das Grab ist einer der Orte, an denen wir zusammenkommen, wenn wir sichergehen wollen, dass uns niemand beobachtet oder zuhört. Auf dem Friedhof schlendere ich den Hügel hinab. Den meisten Menschen ist es unheimlich, über Gräber zu gehen. Mir nicht. Ich stelle mir vor, dass die Toten mir etwas von ihrer Weisheit zuflüstern, wenn ich vorbeikomme. Sie wollen, dass man sich an sie erinnert. Ich sehe mir jeden Grabstein genau an. Rechne die Zeit zwischen Geburt und Tod aus. Die Zahlen rücken immer näher zusammen. Die älteste Person, die ich entdecke, ist zweiundsechzig geworden. Die Zahl der kleinen Grabstellen für Kinder steigt immer mehr an. Auf Zehenspitzen schleiche ich über die winzigen Gräber. Mom hatte vier Fehlgeburten, bis sie endlich akzeptierte, dass ich ein Einzelkind bleiben würde. Unsere Friedhöfe dehnen sich viel zu schnell aus, aber niemand spricht darüber. Ich habe gehört, dass die Regierung heimlich Menschen einäschert, um zu verschleiern, dass unsere Bevölkerung schrumpft.
»Hi, Mrs.Garcia.« Ich lasse mich auf das Grab von Sannas Mom fallen. Sie starb bei der Geburt eines Kindes, aber an Sannas tote Schwester erinnert hier nichts. Kinder unter einem Jahr bekommen kein Begräbnis mehr.
Ich lege mich auf den Rücken und bewundere ihre Aussicht. Die Sonne fängt sich in der Protektosphäre und blinkt und blitzt, als wäre der Himmel voller glänzender Zirkoniumsplitter. Ich weiß noch, wie es war, als ich das erste Mal die Protektosphäre sah – ich meine,
wirklich
sah. Ich war acht, wir hatten Ferien und kamen bei einem Familienausflug an der Grenze vorbei. Dad hielt den Wagen an, zeigte der Grenzpatrouille seine Marke, und dann gingen wir den Rest der Strecke zu Fuß. Er wollte, dass ich stolz auf mein Erbe wäre. Wir waren ungefähr eine Meile gegangen, bevor wir auf die letzten Warnschilder stießen. Wenn man so nah kommt, kann man die Ränder der dreieckigen Bauplatten sehen, aus denen sich die Protektosphäre zusammensetzt. Dad blieb stehen, stemmte die Hände in die Hüften und starrte in den Himmel, als würde er eine aufwendige Lightshow genießen. Ich blickte auf den rissigen, staubigen Boden, der mit Tierkadavern übersät war. Dad erklärte mir, dass die Tiere die Hülle manchmal nicht wahrnehmen würden, so wie Vögel Fensterscheiben manchmal nicht wahrnehmen. Stoßen sie jedoch gegen die Protektosphäre, tötet der Stromschlag sie natürlich sofort. Dad wollte mir ein strahlendes Beispiel für den technischen Fortschritt zeigen, aber ich sah bloß einen gläsernen Käfig und einen Grenzstreifen aus verwesenden Tieren.
Die Erinnerung daran verursacht mir immer noch Gänsehaut. An diesem Tag fühlte ich mich zum ersten Mal gefangen. Damals fürchtete ich, dass die Protektosphäre explodieren oder einstürzen könnte und uns alle auf einen Schlag töten würde. Inzwischen denke ich, sie tötet uns langsam. Sannas Bruder meint, es sei ein genetisches Problem – man nennt es auch Inzucht. Wir sind uns zu ähnlich. Der Genpool, aus dem wir stammen, ist begrenzt, was die menschliche Rasse auf Dauer mehr und mehr schwächt. Doch die Regierung behauptet weiterhin, dass die Protektosphäre ein Ort der Sicherheit und kein Gefängnis wäre.
»Oh! Mein! Gott!«, ruft Sanna von der Kirche aus. Sie hält sich selten mit einer Begrüßung auf. Wenn ich mit ihr zusammen bin, kommt es mir vor, als geschieht alles das erste, letzte oder einzige Mal. Sie hüpft den Hügel hinab, und ihre riesige Patchwork-Tasche prallt dabei gegen die Grabsteine. »Hey, Mom«, sagt sie, als sie das Grab erreicht. Sie setzt sich neben den Stein und legt die Hand über den Namen ihrer Mutter.
Tu ganz normal, mahne ich mich im Stillen, aber mir bricht der Schweiß aus. Wenn ich Sanna sehe, muss ich an Braydon und den Kuss denken, daran, wie lebendig ich mich gefühlt habe, und sofort setzt das schlechte Gewissen ein. Aber es war nur ein Kuss, vollkommen spontan. Und ich wusste nicht, wen ich da küsste. Ich habe mich einfach mitreißen lassen. Die Dunkelheit, die Anonymität war erregend.
Jedenfalls rede ich mir das seit dem Vorfall so ein.
»Ich kann’s nicht fassen.« Ihr Gesicht ist rot und fleckig, und sie schnappt nach Luft. »Braydon …« Ich weiß nicht, ob sie aufgeregt oder entsetzt ist.
»Was denn?«, frage ich und setze mich auf, als mein
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