Neva
okay?« Ich betrachte die Krümel in meiner Hand.
»Vorsichtig.« Sie lacht, und es klingt beinahe wie ein Gackern. »Vorsichtig zu sein ist doch inzwischen fast unmöglich.«
»Man kann immer noch Kondome benutzen.« Mein Magen krampft sich zusammen.
»Das war einmal. Mein Bruder sagt, sie hätten alle aus den Regalen geräumt. Angeblich ein Produktionsfehler. Ha ha.«
»Was?« Vor zwei Monaten wurden empfängnisverhütende Pillen nicht mehr nachgeliefert. Versorgungsengpässe – so hieß es damals. Genauso läuft es immer. Es gibt keine großen Erklärungen. Unsere Möglichkeiten schrumpfen und schrumpfen: Kleidung, Karriere – und jetzt auch noch Verhütungsmittel. »Das macht unseren Schwur umso wichtiger.«
»Ich weiß, ich weiß. Braydon und ich bleiben enthaltsam. Wir sind ja nicht dumm.« Ein seliges, fast debiles Grinsen breitet sich auf ihrem Gesicht aus. »Leicht ist es nicht.«
»Aber es ist die Sache wert«, füge ich mit Nachdruck hinzu. »Die Regierung darf nicht über jeden Aspekt unseres Lebens bestimmen.«
»Eben. Wenn sie mehr Babys wollen, sollen sie eine Mütter-Fabrik bauen. Meine Vagina arbeitet jedenfalls nicht für den Staat.«
Ich lache, aber im Grunde ist es gar nicht lustig. Denn die Regierung will anscheinend wirklich nur das: mehr Menschen. Es kümmert sie nicht, dass es den existierenden Bürgern immer schlechter geht. Sie wollen gar keine denkenden, fühlenden Personen. Sie wollen Körper. Arbeiter. Die Regierung behauptet, dass mehr Leute auch mehr Wohlstand bedeuten würden. Alte Betriebe könnten die Produktion wieder aufnehmen. Brachliegendes Land würde von neuem beackert.
»Das Leben muss mehr zu bieten haben als Geburt und Tod.« Sie bricht ab und wechselt, wie es typisch für sie ist, mit atemberaubender Geschwindigkeit das Thema. »Wusstest du, dass er Masken macht?«
»Was? Wer?«
»Braydon. Sein ganzes Zimmer ist voll davon. Alle möglichen Masken. Er recycelt Papier und andere Materialien, nimmt Abdrücke von Gesichtern der Leute und bemalt sie mit Fantasiemustern. Das ist echte Kunst, Nev. Mir kam es vor, als würden wir vor Publikum knutschen.«
»Schräg.« Wie der künstlerische Typ kommt er mir allerdings überhaupt nicht vor.
»Nö«, setzt Sanna dagegen.
»Wahnsinn!«
Sie streckt die Beine aus und wackelt mit den Zehen im Gras.
»Von mir aus auch das.« Ich beiße in meinen Muffin und genieße den herben Geschmack der Blaubeeren. Wie kann sie ihn lieben? Was weiß sie schon über ihn? Dass er Masken macht und rote Stiefel trägt. Dass er gut küssen kann – okay, das zu wissen ist einiges wert. Aber er ist still. Dabei ist er nicht von der schüchternen Sorte. Bei ihm ist es eher eine seltsame, unheimliche Zurückhaltung – wie die Ruhe vor dem Sturm.
»Und willst du das Beste hören?« Sie blickt sich verschwörerisch um. »Er wohnt in einem riesigen Haus außerhalb der Stadt. Ich glaube, er hat es einfach besetzt.«
»Wie bitte?« Ich verschlucke mich an meinem Gebäck und muss husten. »Er ist ein Bartlett. Er hat es nicht nötig, in einem verlassenen Gebäude zu hausen.« Mit dem Ärmel wische ich mir den Mund ab.
Erneut sieht sie sich vorsichtig um. »Seine Eltern werden vermisst. Und dieses Haus ist der reine Wahn-sinn. Es ist komplett eingerichtet, als ob die Bewohner nur mal eben einkaufen gegangen sind. Es hängen sogar Klamotten im Schrank.«
Noch mehr Vermisste. »Was mag mit den Leuten passiert sein?« Was mag mit all den Verschwundenen passiert sein?
Sie bricht ein Stück vom Muffin ab und wirft damit nach mir. »Dir entgeht das Wesentliche, allerliebste Freundin. Dort gibt es keine lästige elterliche Aufsicht. Er hat mich gefragt, ob ich bei ihm übernachte, und ich dachte – warum nicht?« Sie macht eine dramatische Pause. »Also hab ich’s getan, und es war
Wahnsinn.
«
Braydon tauchte vor ungefähr einem Monat in seinen roten Stiefeln und ohne jegliche Erklärung auf. Allerdings brauchte er auch keine zu liefern, denn sein Nachname lautet Bartlett. Wir anderen haben einfach angenommen, dass er wie so viele andere hierher umgesiedelt wurde. Die Regierung hat vor einiger Zeit angefangen, die Städte im Norden zuerst zusammenzufassen und anschließend stillzulegen. Seitdem kommen die Leute in einem dünnen, wenn auch stetigen Strom zu uns. Man munkelt, dass als Nächstes die Abwanderung aus dem Osten erzwungen wird. Dann geht es vermutlich im Uhrzeigersinn weiter, bis die gesamte Bevölkerung sich an einem Punkt
Weitere Kostenlose Bücher