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Neva

Neva

Titel: Neva Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Grant
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Ich hoffe, dass ich sie mit weiteren Erinnerungen füllen und das immer stärker verblassende Bild von ihr vervollständigen kann. Nun blättere ich zu meiner Vermisstenliste weiter. Die ersten Wörter sind mit der ungelenken Hand eines Kindes notiert worden: Maud Riker, die Schulköchin mit dem abgebrochenen Zahn, Tommy Donovan, Lukas Freely, der Mann im braunen Anzug, der meinen Vater jedes Wochenende besuchen kam, Jemma Johnson. Die Liste setzt sich über Seiten fort, obwohl ich sehr eng und gedrängt schreibe. Außerdem halte ich jedes Mal ebenfalls das Datum des Tages fest, an dem mir auffällt, dass diese Person nicht mehr da ist – selbst wenn ich ihren Namen nicht kenne.
    Als ich nach Maud Riker fragte, hatte mein Vater mir erklärt, dass sie gestorben sei. Sie war sechzig, aber ich habe den ganzen Friedhof der Kirche abgesucht und keinen Grabstein gefunden. Jemma Johnson war so alt wie ich. Sie saß in Mrs.Powells Stunde neben mir. Nach den Sommerferien kam sie einfach nicht zurück. Meine Mutter hat dann tatsächlich erwartet, dass ich die Erklärung glauben würde, sie sei mit ihrer Familie in den Norden umgezogen.
    Manchmal irre ich mich aber auch. Vor wenigen Wochen habe ich in das Buch geschrieben: der Mann an der Kirche, der nach Käse riecht und mir immer Pfefferminz anbietet. Dann stellte sich heraus, dass er nur seine Tochter besucht hat. Also zog ich eine lange gerade Linie, schrieb in Großbuchstaben GEFUNDEN und malte jeden Buchstaben mehrmals nach, ohne das Papier zu beschädigen.
    Jetzt lese ich die letzte Seite: Megan, Abbey, Tamryn, Jill, Madeline, Vanessa, Kelley, Morgan, Victoria, Molly. Alles Mädchen in meinem Alter. Megan und Victoria haben ihren Abschluss vor mir gemacht. Sanna hat mir von Madeline und Kelley erzählt, obwohl sie meinte, dass die beiden weggezogen seien. Tamryn hat im Café an der Ecke gearbeitet. Molly war die Tochter einer Freundin meiner Mutter. Ich habe sie seit einiger Zeit nicht mehr gesehen. Früher habe ich alle paar Monate einen Namen hinzugefügt, heute tue ich es fast einmal die Woche. Ich drücke meine Handfläche auf das Papier, als könne ich damit verhindern, dass das Rinnsal von Namen sich zu einem Strom ausweitet.
    Nur Sanna weiß von der Liste. Jeder, den sie liebt, verschwindet auf die eine oder andere Art. Als sie acht war, ist ihre Mutter gestorben. Immerhin weiß sie, was ihr zugestoßen ist. Als ihr Vater ein paar Jahre später verschwand, hat man sie und ihren Bruder in einer Pflegefamilie untergebracht. Mr. und Mrs.Jones sind vorbildliche Patrioten, deren Vorfahren im
Terror
starben. Vor wenigen Jahren ist Sannas Bruder in den Untergrund gegangen. Seitdem wacht er über sie wie ein rebellischer Schutzengel.
    Ich streichle über den Schneeflockenanhänger an meiner Kette. Ich trage ihn als Erinnerung an meine Großmama und all die anderen Vermissten. Die Polizisten konnten die Kette nicht mitnehmen, weil sie sie nicht gefunden haben. Als sie meine Filmsammlung und alles andere, was ich von meiner Großmutter bekommen hatte, konfisziert haben, nahm ich die Kette hastig ab und steckte sie mir in den Mund. Und während man mir meine Großmutter raubte, betastete ich die Schneeflocke mit meiner Zungenspitze.
    Als meine Eltern am nächsten Morgen von dort zurückkehrten, wohin auch immer sie mit der Polizei gegangen waren, verhielten sie sich so, als sei nichts geschehen. Ich fragte meine Mom nach Großmutter, aber sie tat, als wüsste sie nicht, von wem ich sprach. Ich fragte Dad, doch er verließ einfach das Zimmer. Von diesem Augenblick an war sie aus meinem Leben verschwunden und gelöscht – oberflächlich gelöscht, aber in meinem Tagebuch Erinnerung für Erinnerung festgehalten.
    Ich höre das Rasseln von Schlüsseln und das Klicken des Schlosses an der Eingangstür. Meine Eltern sind wieder zu Hause. Ich klappe das Buch zu und gleite lautlos vom Bett. Wenn meine Mutter denkt, dass ich noch wach bin, wird sie wissen wollen, wie es gewesen ist, und was soll ich ihr dann sagen? Ich habe den Freund meiner besten Freundin geküsst und das Gesetz gebrochen? Das schlechte Gewissen durchdringt mich wie ein dumpfer Schmerz.
    Ich hole ein paar große Klumpen aus meiner Matratze, stecke das Tagebuch tief in das Loch hinein und schlüpfe wieder unter meine Decke. Manchmal meine ich, die Ecken des Buchs unter mir spüren zu können. In gewisser Hinsicht bin ich wohl wie mein Vater: Wie er halte ich vergangene Ereignisse fest, auf dass sie nie vergessen

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