Neva
einmal auf. Ich haste zu ihr. Ihr Kleid ist unter ihren Knien straff gezogen, und jetzt erkenne ich, dass sie schwanger ist. Sie blickt herab auf ihren Bauch, als würde er ihr erst jetzt auffallen. Ich helfe ihr auf und weise sie an, zur Straße zu laufen. Ich glaube nicht, dass sie mich versteht, also zeige ich auf die anderen Mädchen in Rosa, die nun wie schwerfällige, runde Zombies vorwärtswatscheln.
Durch das Tor betrete ich die Scheune. Das Feuer wirft seinen roten Schein ins Innere. Ganz im Gegensatz zum rustikalen Äußeren ist drinnen alles so weiß und steril wie in einer Krankenstation. Zwei Frauen in Kitteln gehen durch die Reihen von Betten und befreien schlafende Mädchen von den Sauerstoffmasken, Schläuchen und Infusionsnadeln, die sie an ihr Lager zu fesseln scheinen. Zwei weitere Mädchen in Hemden wie meinem folgen ihnen, wecken die Schlafenden und ziehen sie auf die Füße.
Und mit einem Mal ergibt alles einen Sinn.
Ich beginne am ganzen Körper zu zittern. Ich denke an mein neues, uns von der Regierung zugewiesenes Geschwisterchen. Ein Gefängnis nur für Frauen. Der hohe Bedarf an neuen Bürgern. Die Regierung entführt Mädchenkörper! Ich kann es nicht fassen, aber die Beweise befinden sich hier vor meinen Augen. Mein Magen krampft sich plötzlich zusammen. Was da getan wird und wie man dabei vorgeht, will ich mir nicht vorstellen. Ich schlucke die bittere Galle hinunter, die in meiner Kehle aufsteigt. Mein Verstand weigert sich, das Ausmaß des Schreckens zu begreifen. Ich kann nicht einfach hier herumstehen. Ich muss ihnen helfen.
Mit neuer Energie setze ich mich wieder in Bewegung. Je weiter ich ins Gebäude vordringe, umso wärmer wird es; ich komme mir vor wie in einem Backofen. Der Schweiß tropft mir von den Schläfen, und ich muss ihn mir aus den Augen wischen, um überhaupt etwas sehen zu können. Und dann entdecke ich, dass der hintere Teil des Gebäudes Feuer gefangen hat. Die Flammen fressen schwarze Löcher in die weißen Wände. Zwei Wachleute schlagen mit Decken darauf ein.
Ein Mädchen in meinem Alter kommt auf mich zu. Sie scheint in ihrem rosa Kleid zu schwimmen. Ich laufe auf sie zu und stütze sie, und sie starrt blinzelnd zu mir auf.
»Nicoline.« Ich ziehe sie an mich und halte sie fest. Auf ihrer Wange ist noch der schwache Umriss des roten Sterns zu erkennen. »Du bist okay!« Ich schiebe sie in Richtung Ausgang. »Hast du Sanna gesehen?«
Sie schüttelt den Kopf. »Sanna«, wiederhole ich und male mir ein S auf die Wange.
»Sanna. Ich bin so froh, dass es dir gutgeht.« Nicoline tätschelt meine Wange. Sie hält mich für Sanna.
»Nein! Wo
ist
Sanna?« Verzweifelt versuche ich, es ihr begreiflich zu machen, aber es hat keinen Zweck. Ich schleife sie hinaus und zeige ihr die Richtung.
Erneut blinzelt sie mich an. Ein kurzes Flackern tritt in ihre Augen, und sie scheint sich zu erinnern. »Sanna war hier«, sagt sie und lässt mich stehen.
Was soll das heißen? Meint sie, Sanna wurde woanders hingebracht? Oder …?
Ich erlaube mir nicht, den Satz zu Ende zu denken. Ich überprüfe jedes Bett und jedes Gesicht. Dem Team, das die Mädchen weckt, bin ich inzwischen weit voraus. Ich habe nur noch wenige Betten vor mir.
Dann sehe ich sie. Ihre Narbe leuchtet hell zwischen der Maske, die Mund und Nase bedeckt, und den Schläuchen, die zu den durchsichtigen Infusionsbeuteln an der Bettseite führen. Ich sehe einen Moment lang zu, wie die Frauen die anderen Patientinnen von den Schläuchen trennen, und mache es genauso. Rasch werfe ich einen Blick unter das Bett, weil ich hoffe, dass ich es vielleicht hinausrollen kann. Aber das Gestell ist fest mit dem Boden verschraubt.
»Sanna! Sanna! Ich bin’s – Neva. Wach auf!« Während ich auf sie einbrülle, ziehe ich sie in eine sitzende Position. Ich lasse das Bettgeländer an der Seite herab und schwinge ihre Füße über die Kante. Ich schüttele sie zuerst sanft, spreche sie an und sage ihr, wer ich bin. Schließlich schlage ich ihr ins Gesicht, wie sie es vor wenigen Tagen bei mir getan hat. Sie öffnet die Augen. Starrt mich eine Sekunde lang an und legt den Kopf an meine Schulter. Versucht zu sprechen. Ich spüre, wie sich ihre Lippen bewegen. Ich ziehe sie fest an mich und höre sie flüstern: »Nev. Du bist da.«
»Wir müssen dich hier rausbringen.« Halb zerre und halb trage ich sie aus dem Gebäude. Das Dach steht in Flammen, und dichter Rauch füllt die Scheune. Die Betten sind mittlerweile leer, und
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