Neva
höre auf, mich zu wehren. Ein brennender Baum stürzt auf uns, auf Nicoline zu. »Nein!«, schreie ich und zappele wild, um mich zu befreien. Wie in Zeitlupe sehe ich den Baum fallen. Er explodiert in einer Wolke aus Funken, Flammen und Asche, als er zu Boden geht und Nicoline unter sich begräbt.
Ein Schrei steigt tief unten in mir auf, bricht aus mir heraus und entlädt sich in die Nachtluft. Der lodernde Baum spuckt Feuer. Winzige Funken brennen sich wie heiße Stecknadeln in meine Haut. Mein Nachthemd ist übersät mit Brandlöchern.
Nicoline ist tot.
Der Polizist schleift mich weg von Nicolines brennender Leiche. Als wir uns dem Transporter nähern, entdecke ich auf dem Fahrersitz Sanna, die mich mit weit aufgerissenen Augen anstarrt. »Fahr los!«, brülle ich. »Verschwinde von hier!« Ich habe es verdient, hier bei Nicoline zu sterben.
Der Polizist lässt mich los und hämmert gegen die Windschutzscheibe. Menschliche Gestalten, einige in Schwarz, andere in Rosa, wieder andere in Kittel gehüllt wie ich, liegen reglos auf dem Boden. »Wenn du mich nicht reinlässt, bring ich sie um!« Er greift mir an die Kehle, hebt mich von den Füßen und drückt mich auf die Motorhaube. Er wird mich in jedem Fall töten, ich weiß es.
»Fahr, Sanna!«, schreie ich, bevor seine Hand sich fester um meinen Hals schließt. Der Motor heult unter mir auf.
Ich wende mich ab, damit sie mein Gesicht nicht sehen muss, wenn er mich umbringt. Gierig schnappe ich nach Luft, als er seinen Griff lockert, um meinen Kopf gegen die Motorhaube zu rammen. Mein Schädel scheint zu explodieren. Der Polizist brüllt, und wieder heult der Motor auf.
Ich muss träumen.
Denn ich sehe Braydon.
Er sitzt auf seinem Motorrad und kommt direkt auf mich zu.
Noch bevor die Maschine zum Stehen kommt, springt er ab. Sein Schlag trifft den Polizisten mitten ins Gesicht. Die Wucht des Hiebs befreit mich, und ich ringe in der verqualmten Luft verzweifelt nach Atem. Der Polizist taumelt zurück, und ich sinke in Braydons Arme. Er hält mich fest, bückt sich gleichzeitig und zieht etwas aus seinem Stiefel. Als er sich aufrichtet, erkenne ich eine Pistole in seiner Hand. Pistolen habe ich bisher nur im Kino gesehen. Niemand trägt heutzutage Schusswaffen bei sich – viel zu gefährlich, wenn der Himmel unter Strom steht.
»Stopp!«, befiehlt Braydon, aber der Polizist ist schon auf den Beinen und kommt langsam auf uns zu. »Stopp!«, brüllt Braydon ein weiteres Mal. Der Mann geht einfach weiter.
Braydon drückt ab, und ich höre den Knall, obwohl ich das alles erst begreife, als der Polizist fällt. Ein rotes Loch öffnet sich in seiner Brust.
Braydon reißt die Transportertür auf. »Rein!« Er schubst mich gegen Sanna, und sie und ich drängen ein paar andere Mädchen zur Seite, um Platz für ihn zu machen. Sanna setzt sich auf den Beifahrersitz, ich lande auf dem Boden zwischen ihnen. »Bist du okay?«, fragt Braydon, als er den Gang reinrammt.
Ausdruckslos schaut Sanna von mir zu Braydon. Sie nickt.
Braydon wendet den Van, und wir holpern über unebenen Grund. Während ich kräftig durchgeschüttelt und herumgeschleudert werde, weigere ich mich, darüber nachzudenken, was sich unter den Reifen befinden mag.
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28 . Kapitel
W ie wütende Finger trommelt der Regen auf das Dach des Transporters. Es hat angefangen, als wir losfuhren. Voller Staunen sehen wir nun zu, wie die Landschaft im Regenschleier verschwimmt. Hier hat es seit Monaten nicht mehr geregnet. Das Wetteramt reserviert den Regen für die Ballungsräume. Also ist die Regierung über das Feuer und unsere Flucht informiert. Wahrscheinlich sucht man bereits nach uns. Die Melodie des Regens und das Summen des Motors betäuben meine Angst.
Wir fahren seit Stunden. Ich sitze noch immer auf dem Boden zwischen Sanna und Braydon. Dennoch merke ich, dass wir in der Hauptstadt angelangt sind, weil der Van sein Tempo verlangsamt, immer wieder anhält und abbiegt. Ich starre auf das Armaturenbrett und beobachte auf der Anzeige, wie die Meilen vorbeiziehen. Ich kann weder Braydon noch Sanna noch die Mädchen ansehen, die die ganze Fahrt über leise weinen. Der Geruch nach Schweiß und Rauch ist ekelerregend. Jemand hat die Fenster heruntergelassen, aber der säuerliche Gestank will einfach nicht weichen.
Vor meinem inneren Auge sehe ich Nicolines Gesicht, als ich ihr versprochen habe, sie nicht im Stich zu lassen. Durch meine unbedachten Taten ist sie verhaftet und an diesen
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