Neva
sichern: Mom sieht vor allem ihre einzigartige Schönheit, so, wie sie auch immer meine gesehen hat.
Plötzlich empfinde ich einen Hauch Eifersucht. Jane darf also meine Mutter behalten.
»Ist es in Ordnung, wenn ich ein paar Sachen mitnehme?«, frage ich.
»Natürlich.« Mom beginnt, wahllos irgendwelche Gegenstände aufzuheben, die auf dem Boden liegen. Sie streicht mir übers Haar, als ich an ihr vorbeigehe. Lässt mich nicht aus den Augen. Wir stoßen gegeneinander, weil sie mir auf Schritt und Tritt folgt. »Du musst Hunger haben«, sagt sie, als wir erneut zusammenprallen. »Ich mache dir etwas zu essen. Du kannst es ja mitnehmen.« Ich könnte jetzt keinen Bissen runterkriegen, aber ich weiß, dass sie sich beschäftigen muss. Und ihr trauriger Blick ist mir unerträglich. Sie hier zurückzulassen fällt mir schon schwer genug, auch ohne vor Augen zu haben, wie sehr ich ihr weh tue. Sie hastet aus dem Zimmer.
Zuerst ziehe ich Braydons Kleider aus. Ich finde eine Schere auf meinem Schreibtisch und zerschneide und reiße sie in immer kleinere Stücke. Am liebsten würde ich sie zerfetzen, bis sie nur noch aus einzelnen Fädchen bestehen, die ich dann verbrenne und deren Asche ich im Klo herunterspüle. Meine Wut wächst. Ich möchte schreien. Ich starre mich im Spiegel an. Mein Körper ist übersät mit blauen Flecken und Schrammen. Das ist allerdings nichts, verglichen mit den Verletzungen, die man nicht sieht und die niemals heilen werden. Einen Moment lang ziehe ich in Erwägung, doch zu bleiben, aber es geht nicht. Braydon hat den Befehl, mich auszuliefern. Die Regierung will an mir und Sanna ein Exempel statuieren. Wahrscheinlich sucht man bereits überall nach uns. Wenn ich überleben will, muss ich Heimatland für immer verlassen.
Ich muss es heute um Mitternacht zum Capitol-Komplex schaffen.
Rasch ziehe ich mich an. Um mein Tagebuch aus der Matratze zu holen, knie ich mich vors Bett, als würde ich mein Abendgebet sprechen.
Gott behüte Großmama, Mommy und Daddy und Sanna.
Das war stets die Reihenfolge. Ich glaube, es hat Dad immer gestört, dass Großmama an erster Stelle genannt wurde, aber sie war nun einmal diejenige, die mir dabei geholfen hat, dieses schreckliche Gebet auswendig zu lernen:
Leg ich mich schlafen in der Nacht, der liebe Gott mich gut bewacht. Stürbe ich noch vor dem Tag, der Herr mich zu sich holen mag.
Eines Abends sagte ich Großmama, dass ich dieses Gebet nicht mehr aufsagen wollte.
»Und warum nicht?«, fragte sie. Wir beide blickten auf unsere Hände, die zum Beten gefaltet waren.
Ich drückte meine Lippen gegen meine Handkante und murmelte: »Ich mag das mit dem Sterben nicht.«
»Ich mag das mit dem Sterben auch nicht«, erwiderte sie und schaute gen Himmel. »Mal sehen.« Ihr Blick schien etwas zu suchen, dann huschte ein Lächeln über ihr Gesicht.
»Leg ich mich zum Schlafen ins Bett«, begann sie, »wird’s morgen hoffentlich richtig nett. Ich wünsch mir Spaß und Sonnenlicht, und bitte wache über mich.«
Ich lege meine Stirn auf den kratzigen Umschlag des Tagebuchs und wiederhole mein Gebet.
Schließlich blättere ich die Seiten durch und streiche über jede einzelne, bis ich zu meiner Vermisstenliste komme. Ich glätte die nächste freie Seite. Darauf schreibe ich meinen und Sannas Namen in großen schwarzen Druckbuchstaben. Mehrmals zeichne ich sie nach. Ich vermerke das heutige Datum und notiere zum Schluss: »Ich liebe dich, Mom.« Was noch? Ich würde gerne sagen, dass es mir leid tut. Dass ich hoffe, dass ich sie nicht in Schwierigkeiten gebracht habe. Sie lebt seit einiger Zeit ein zweites Leben, nicht ein recyceltes wie ihre Mutter, sondern eines, das sie sich selbst erschaffen hat.
»Nev?«
Ich schnappe vor Schreck nach Luft, obwohl mein Name sehr leise ausgesprochen wurde. Sanna steht in der Tür. Ihr strubbeliges Haar umrahmt ihr Gesicht wie ein ausgefranster Heiligenschein. Ihr Blick ist leer. Ich schlage mein Tagebuch zu und stecke es unter mein Hemd.
»Ich bin aufgewacht, und du warst weg.« Ihre Stimme klingt tonlos, ihre Züge verraten keinerlei Gefühlsregung.
»Ich wollte nur ein paar Sachen holen.« Ich geselle mich zu ihr. »Geh doch zum Wagen und warte dort auf mich.« Ich nehme ihren Ellenbogen und will sie aus dem Zimmer schieben. Es kommt mir vor, als ob zwar ihr Körper hier ist, Sanna selbst aber ganz woanders.
Jane gibt einen leisen, nuckelnden Laut von sich und regt sich in der Wiege. Das Geräusch lässt Sanna aufmerken.
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