Neva
unsere Hintertür. Ich erstarre, als ich ein Baby weinen höre. Das Geräusch dringt aus meinem Zimmer. Ich schleiche mich heran und spähe hinein.
»Ist ja schon gut«, tröstet meine Mom das Baby, dessen Weinen langsam verklingt. Mit wiegenden Schritten wandert sie durch den Raum. Ihr Pferdeschwanz hat sich fast aufgelöst und hängt an einer Seite herab. Ihr Gesicht ist bleich und verquollen; offenbar hat sie geweint. Nun drückt sie das Baby an ihre Brust. »Braves Mädchen. Jetzt aber husch, husch ins Bettchen.« Das hat sie früher auch immer zu mir gesagt, und als sie nun ein Schlaflied summt, erkenne ich es sofort, obwohl ich es so viele Jahre nicht mehr gehört habe. Mom legt ihre Wange an die des Kindes. Sie summt und wiegt sich wie in Trance.
»Mom«, flüstere ich. Sie hört mich nicht. »Mom«, wiederhole ich etwas lauter.
Sie schreit auf, und prompt fängt das Baby wieder an zu weinen. Mit einem Mal zittert Mom am ganzen Körper, und ich fürchte schon, dass sie das Baby fallen lassen könnte. Ich eile zu ihr und nehme ihr das Kind ab. Mom wirft ihre Arme um mich und schluchzt an meinem Hals. »Man hat mir erzählt, dass du tot wärst!«
Ich winde mich aus ihrer Umarmung, um dem Baby Luft zu verschaffen. Es ist so winzig und zart. Sein Gesicht ist rot und fleckig, die Wangen sind nass von Tränen. Plötzlich wünsche ich mir nur, dass die Kleine zu weinen aufhört und mich mit ihren runden vollen Lippen anlächelt. Ihre Traurigkeit ist eine, die ich lindern kann. Ich hüpfe ein wenig, und die Schreie der Kleinen verebben allmählich.
»Sie mag es, wenn man sie herumträgt«, meint Mom und wischt dem Baby die Wangen ab.
Ich durchquere mein Zimmer. Meine Möbel sind in eine Ecke geschoben worden, und dort, wo mein Bett gewesen ist, steht nun eine Wiege. Meine Kleider liegen noch immer auf dem Boden verstreut. Als ich stehen bleibe, fängt die Kleine erneut an zu weinen, also setze ich mich wieder in Bewegung, auch wenn ich müde bin.
»Ich habe mich geweigert, etwas von dir herzugeben«, sagt sie, während sie die Vorhänge zuzieht.
Ich erzähle meiner Mutter vom Frauen-Motivationszentrum, schildere ihr, was sie Sanna angetan haben, berichte von Braydons Verrat und Großmamas Einladung. Mom folgt mir mit ihren Blicken und steht einfach reglos da. Ihre Arme hängen kraftlos an den Seiten herab.
»Ich habe Gerüchte gehört«, entgegnet sie, als ich fertig bin, »dass sie junge Mädchen entführen. Ich hätte nie gedacht, dass sie wirklich so weit gehen würden. Ich habe versucht, dich zu beschützen, aber du bist zu sehr wie deine Großmutter.«
»Und auch wie du.« Ich wünschte mir, ich hätte früher gewusst, wie rebellisch meine Mutter auf ihre ganz eigene, stille Art ist. Ich wünschte mir, wir hätten uns unsere Geheimnisse eher anvertraut. Früher hat sie immer alles wieder in Ordnung gebracht. Mit einem Küsschen auf das aufgeschrammte Knie war alles gleich besser. Sie sang mir Lieder vor und verscheuchte damit die Ungeheuer. Doch diese Sache hier kann auch sie nicht wieder hinbiegen.
»Neva, du musst gehen. Geh zu deiner Großmama.« In ihren Augen glitzern Tränen.
»Komm mit mir«, bitte ich sie und erkenne plötzlich, dass ich nur deswegen hergekommen bin. Nur sie hält mich noch hier.
Sie zögert nicht. »Das geht nicht.«
»Warum nicht?«, frage ich, aber ich kenne die Antwort bereits.
»Ich kann deinen Vater nicht einfach verlassen … oder Jane.« Sie deutet mit dem Kopf auf das Baby.
Sie wird also bleiben und an der Seite aller Sengas und Carsons dieses Landes kämpfen. Und einen Augenblick lang will ich ebenfalls bleiben und kämpfen.
Nun strömen uns beiden die Tränen über die Wangen.
Sie wischt sich die Augen und räuspert sich, um ihre Gefühle in den Griff zu kriegen. »Du machst dich jetzt besser auf den Weg.«
Jane ist endlich eingeschlafen. Ich ziehe sie fest an mich und atme die süße Mischung aus Milch und Babylotion ein. Ich küsse sie auf die Wange und gebe sie Mom zurück.
»Sie hat deine Nase«, meint Mom und tippt dem Baby auf die winzige Nasenspitze.
»Jeder hat meine Nase«, antworte ich und betrachte die zarten Züge in dem kleinen Gesichtchen.
»Aber sie hat auch dein Funkeln in den Augen. Sie ist wirklich schlau, das kann ich schon jetzt spüren.«
Mom legt Jane in die Wiege und steckt die zerschlissene Decke um den kleinen Körper fest. Sie liebt die Kleine bereits. Mag Jane auch produziert worden sein, um das Überleben Heimatlands zu
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