Neva
ist es, mich hinauszuschleichen. Niemand darf wissen, dass ich gehe. Schließlich kann ich mich doch nicht für immer verabschieden – am wenigsten von Sanna! Nach allem, was sie durchmachen musste, und nachdem sie bereits so viele geliebte Menschen verloren hat – wie kann ich sie da im Stich lassen? Und wenn ich Braydon noch einmal sehe, werde ich nur bleiben wollen. Seltsam, dass ich nun zu den Verschwundenen gehören werde. Nicht ich muss versuchen, die Lücke zu füllen, die ein anderer hinterlässt – nun bin ich diejenige, die die Flucht ergreift. Der Gedanke, einfach mit der Dunkelheit zu verschmelzen, berauscht mich. Dennoch brauche ich einen einzigen weiteren Moment mit Braydon.
Im zweiten Schlafzimmer ist er nicht. Auf Zehenspitzen schleiche ich hinunter. Als ich mich der Haustür nähere, höre ich ein schwaches Klopfen. Panisch schaue ich mich nach einem Versteck um. Schließlich verschwinde ich im Schrank, lasse ihn aber einen winzigen Spalt offen, so dass Licht hereindringt und ich die Eingangstür sehen kann. Das Haus ist still. Vielleicht habe ich es mir nur eingebildet. Als ich die Schranktür gerade wieder aufschieben will, höre ich es erneut. Dieses Mal klingt das Klopfen lauter, fordernder.
Braydon erscheint in meinem eingeschränkten Gesichtsfeld. Er zögert an der Tür und wirft einen Blick hinauf zur Treppe, als wolle er sich vergewissern, dass Sanna und ich auch wirklich oben im Zimmer sind und schlafen. Was hat er vor?
Er zieht die Tür ein Stück auf, so dass sein Körper mir die Sicht auf die Person versperrt, die geklopft hat.
»Wo bist du gewesen?« Eine rauhe männliche Stimme dringt durch die Stille.
Der Mann draußen will sich vorbeizwängen, doch Braydon weicht nicht von der Stelle. Er versucht sogar, die Tür wieder ein Stück zu schließen. »Ich habe die Situation hier unter Kontrolle.«
»Das bezweifle ich.« Nun wird die Tür aufgestoßen, und ein Mann in Polizeiuniform tritt ein. Ich ziehe mich weiter zwischen die muffig riechenden Mäntel zurück.
Braydon tritt vor den Polizisten und versperrt mir so erneut die Sicht. »Ich habe gesagt, ich komme zurecht.«
»Bisher hast du aber ziemlich viel Mist gebaut.« Der Polizist lacht.
Ich kann nicht begreifen, was ich da sehe und höre. Ich verstehe kein Wort.
»Verschwinden Sie einfach und lassen Sie mich meine Arbeit machen.« Braydon versetzt dem Polizisten einen Schubs in Richtung Ausgang.
Der Mann sticht Braydon mit dem behandschuhten Zeigefinger in die Brust. »Pass bloß auf. Wir haben es auf deine Art probiert. Jetzt machen wir es auf meine.«
»Ich kann sie noch rumkriegen. Ich bin ganz nah dran.« Was redet er denn da?
»Wir wollen ein Exempel an ihnen statuieren und …«
»Und das werden Sie auch«, unterbricht Braydon ihn.
Die Zeit steht plötzlich still. Ich kann nicht fassen, was ich höre. Es kommt mir vor, als wäre ich in ein schwarzes Loch gestoßen worden, in dem meine Sinne nur eingeschränkt funktionieren. Ich schnappe auf, wie Braydon das Wort »kompliziert« sagt, und lausche angestrengt auf die Reaktion des Polizisten.
»Ich will sie noch heute bis Mitternacht in der Polizeizentrale sehen.« Die Worte des Polizisten dringen langsam bis zu meinem Hirn durch.
Braydon nickt und schiebt den Mann hinaus. Er schaut hinauf zu dem Zimmer, in dem er Sanna und mich glaubt, dann folgt er dem anderen nach draußen und zieht die Tür hinter sich zu.
Die Wahrheit erschüttert mich bis ins Mark. Ich hätte meinem ersten Instinkt trauen müssen. Noch immer kann ich es nicht fassen, doch nun fügen sich alle Einzelteile dieses Puzzles zu einem vollständigen Bild zusammen. Deswegen wohnt er hier. Deswegen hat er neue Kleider und all die Dinge, die wir anderen nicht bekommen können. Deswegen hat er sich Sanna ausgesucht. Deswegen konnte die Polizei mich aufspüren.
Und deswegen hat er mich im Dunkeln geküsst.
Das Einzige, was nicht passt, ist die Tatsache, dass er uns gerettet hat: Er hätte uns einfach im Frauen-Motivationszentrum zurücklassen können. Das begreife ich nicht, wohl aber, dass ich ihm nicht mehr trauen darf. Wer sich mit einer Schlange anfreundet, sollte sich nicht wundern, wenn sie zubeißt. Ich schiebe alles andere beiseite und konzentriere mich ausschließlich auf meinen Überlebensinstinkt. So leise wie möglich renne ich hinauf ins Schlafzimmer und wecke Sanna. Sie ist verwirrt, doch ich erkläre ihr, dass wir wegmüssen. Sofort. Ich weiß, welche Lüge ich ihr auftischen
Weitere Kostenlose Bücher