Never forget - das Mädchen, das sich nicht erinnern durfte
steht.
Aber nie ist jemand da.
Im Badezimmer wurden Shampoo, Haarspülung und Sonnencreme aus ihren inzwischen leeren Flaschen gedrückt. Ich habe Glück und finde ein paar trockene Wundpflaster, die neben einem Haufen aus ruinierten liegen. Ich beklebe damit meine pochenden Finger und lasse die Papierstreifen einfach auf den Boden fallen. Ich mache mich auf den Weg zur Haustür, noch ehe ich das zweite Pflaster richtig befestigt habe.
Zwanzig Sekunden später sitze ich im Wagen des Fremden, in der Jacke eines Fremden und mit dem Bild von weiteren Fremden in meiner Tasche.
Und dann ist da noch die Waffe auf dem Sitz neben mir.
Ich stecke den Schlüssel ins Zündschloss, drehe ihn herum und löse die Handbremse. All das geschieht automatisch.
Also weiß ich wohl, wie das geht. Ich korrigiere mein Alter nach oben. Vermutlich bin ich mindestens sechzehn. Meine Hände liegen routiniert auf dem Lenkrad, während ich in einem weiten Bogen auf die Straße zusteuere.
5
TAG 1, 17:23 UHR
I ch fahre über ein paar Schotterwege mit schlammigen Pfützen. Sie schlängeln sich durch hohe Tannenbäume und plötzlich taucht vor mir eine Straße auf. Ich halte an. Es ist eine schmale, unbefestigte Straße, gerade breit genug für zwei Autos. Nicht einmal einen Mittelstreifen gibt es. Keine Verkehrszeichen. Nichts, was mir verraten könnte, wo ich bin. Oder wohin ich fahren soll.
Ich warte ein paar Sekunden, doch es kommen keine Autos vorbei. Es gibt keine Straßenlampen, keine Telefonmasten und erst da merke ich, dass es allmählich dunkel wird. Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigt 17:23 Uhr an. Es muss Spätherbst oder Frühlingsbeginn sein. Ich sehe keine Reste von altem Schnee, deshalb tippe ich auf Herbst.
In welche Richtung soll ich fahren? Nach links oder rechts? Die Straße fällt von links nach rechts ab. Ich bin wohl irgendwo oben in den Bergen. Wenn ich links abbiege, fahre ich noch weiter nach oben und entferne mich womöglich von der Zivilisation.
Deshalb biege ich rechts ab, meine feuchten Handflächen rutschen über das Lenkrad. Und erst als ich das tick-tick-tick höre, wird mir bewusst, dass ich den Blinker eingeschaltet habe – als wäre jemand hier, der es sehen könnte.
Während ich die Straße entlangfahre, halte ich Ausschau nach anderen Hütten, anderen Straßen, Schildern, irgendwelchen Hinweisen auf Menschen, einem Ort, an dem ich Hilfe bekommen kann, aber da ist nichts. Nur Bäume, die dicht am Straßenrand stehen. Der Tacho zeigt gerade mal fünfzig Stundenkilometer an, aber ich traue mich nicht, schneller zu fahren. Habe ich das Licht an? Ich blicke auf die Straße und sehe sie – zwei bleiche Lichtkegel, die sich vor mir herbewegen. Es wird eindeutig dunkler. Die Sonne geht rechts von mir hinter den Bäumen unter. Das heißt, dass ich Richtung Süden fahre.
Warum sammle ich dauernd Informationsschnipsel? Was macht es schon aus, ob Tag oder Nacht ist? Winter oder Sommer? Was macht es für einen Unterschied, in welche Richtung ich fahre?
Entscheidend ist jetzt doch nur, dass ich nicht weiß, wer ich bin.
Und dass zwei Männer mich umbringen wollen.
Als ich um eine Kurve fahre, taucht plötzlich ein blauer Subaru auf und fährt an mir vorbei. Er ist verschwunden, bevor ich entscheiden konnte, was ich tun soll. Sollte ich nächstes Mal, wenn ich ein Auto sehe, hupen und aufblenden, aus dem Fenster rufen, dass ich in Schwierigkeiten stecke? Aber in dem Auto, das soeben vorbeigefahren ist, saß ein Mann. Und ich habe den Kerl, der den Befehl gegeben hat, mich zu töten, nie gesehen. Was, wenn ich jemanden zum Anhalten bringe und sich herausstellt, dass es die Person ist, die meine Ermordung angeordnet hat? Was, wenn er zurückkommt, um herauszufinden, wieso sich sein Freund nicht meldet?
Es ist nicht sicher, hier draußen jemanden um Hilfe zu bitten. Nicht, wenn keine Zeugen dabei sind. Ich werde weiterfahren, bis ich eine Ortschaft erreiche. Dort suche ich dann die Polizeistation. Die werden wissen, was zu tun ist, wie sie mir helfen können.
Dann fällt mir das Handy des Mannes wieder ein, das in meiner Tasche steckt. Ich könnte jetzt gleich den Notruf wählen!
Ohne zu überlegen, lasse ich die Hand durch meine offene Jacke gleiten und versuche, meine Finger in die linke Tasche meiner Jeans zu zwängen. Au! Tränen schießen mir in die Augen und ich ziehe meine armen, verletzten Finger zurück, als hätte mich etwas gebissen.
Der Schmerz lässt mich mein Vorhaben noch einmal neu
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