nevermore
senken, sie ein- und ausatmen würde.
Die vielleicht verstörendste Sache an dem Grabmal war, dass der unglaublich schwere Deckel zur Seite geschoben worden war.
Isobel wagte es nicht, die Stufen hinaufzugehen und hineinzusehen. Denn das Einzige, was noch schlimmer wäre, als einen verwesten Körper darin zu finden, wäre, keinen zu finden. Statt-dessen watete sie durch den Teppich aus zerbrochenen Gesichtern und Körperteilen, bis sie die Tür der Krypta erreichte.
»Herrin?«
Beim Klang der gedämpften, rauen Stimme blieb sie stehen.
»Herrin, seid Ihr das? Seid Ihr zurückgekehrt?«, fragte die Stimme neugierig.
Isobels Hand hielt kurz vor der Tür aus Eisen und Glas inne.
Sie wich zurück und machte ein paar vorsichtige Schritte, um einen Blick auf die andere Seite des Sarkophages werfen zu können.
Er saß zusammengesunken an der gegenüberliegenden Wand halb von Schatten verborgen. Ein Noc. Er sah auf und richtete seinen dunklen Blick auf Isobel.
»Ach«, sagte er grinsend, »das ist aber mal eine Überraschung Sag, welcher Dämon hat dich denn hierhergelockt?«
Er war anders als die übrigen Nocs, das fiel Isobel sofort auf. Statt dunkelrot bis schwarz war sein Haar tiefschwarz bis blauviolett. Als er sich von der Wand abdrückte, standen seine Haare vom Kopf ab wie der gefiederte Schopf eines Vogels. Seine Zähne wirkten so scharf wie zahllose gespitzte Bleistifte und leuchteten beunruhigend indigoblau. Sein Gesicht war zwar ganz, doch fast die Hälfte seines Körpers fehlte: ein Arm ab der Schulter, ein Teil seines Unterleibs sowie ein Bein ab dem Knie. Eine dünne Staubschicht überzog seine dunkle Hose und verriet, dass er sich schon eine ganze Weile nicht mehr bewegt hatte.
Er trug weder Hemd noch Jacke, was das Ungewöhnlichste an ihm zur Schau stellte: Detaillierte Zeichnungen bedeckten einen Großteil seiner Haut. Seine Brust, die so muskulös und glatt war wie die einer griechischen Statue, zierten minutiös ausgearbeitete Tätowierungen von Segelschiffen, aufgewühlten Wellen und Gischt. Eine Meerjungfrau mit langen Haaren zierte seine noch vorhandene Schulter und ihr schuppiger Schwanz erstreckte sich über seinen ganzen Arm hinunter bis zur Hand. Ein Teil des Meeresepos verschwand im Abgrund seiner fehlenden Körperhälfte, und obwohl die Bilder selbst vielleicht schön waren, war Isobel zu sehr von der Tatsache abgelenkt, dass sie wie Schnitzereien in die Haut des Nocs gemeißelt waren. Dieser Gedanke ließ die Zeichnungen, zusammen mit dem dämonischen Grinsen des Nocs, dem leuchtenden Weiß seiner Haut und den zerklüfteten Lücken in seinem Körper, irgendwie vulgär aussehen.
»Wer bist du?«, fragte sie.
»Nicht wer«, er drohte ihr mit einem blauen Krallenfinger, »was.«
»Also gut«, tat ihm Isobel den Gefallen. »Was?«
»Verblüfft«, entgegnete er, »darüber, dass du mich, so bezaubernd du auch bist, einen Arm und ein Bein gekostet hast.«
Isobel kam hinter der Grabstätte hervor und beäugte ihn misstrauisch.
»Wenn ich von deinem maskierten Freund gewusst hätte«, fuhr er fort, »und davon, wie gut er mit einem Schwert umgehen kann, dann hätte ich Pin den Vortritt bei der Verfolgungsjagd gelassen.«
»Verfolgungsjagd?« Isobels Stimme hallte durch die Krypta.
Der Noc grinste und zeigte mit einem von Zeichnungen übersäten Finger auf etwas hinter ihr. »Sei doch so lieb und gib dem alten Scrimshaw das Körperteil dort drüben.«
Isobel blickte über ihre Schulter neben den offenen Sarg, wo ein hohler Arm lag, vollständig von der Schulter bis zum Handgelenk, aber ohne Hand.
Sie wandte sich wieder dem Noc zu. Ungläubig starrte sie ihn an und hatte mit einem Mal alle Fragen vergessen, die sie ihm hatte stellen wollen. Sie beobachtete, wie er mit seiner verbleibenden Hand den Staubhaufen neben sich durchwühlte und einen großen Splitter herauszog. Er hielt ihn an seinen lückenhaften Körper wie jemand, der versucht herauszufinden, an welcher Stelle ein Puzzlestück passt. Isobel war entsetzt, als ihr klar wurde , was er da tat. Er setzte sich wieder zusammen. War das überhaupt möglich? Sie machte einen Schritt nach hinten. Unter ihren Füßen knirschte es.
Er blickte auf. »Nein?«, fragte er.
Sie machte noch einen Schritt nach hinten.
»Das nenne ich mal Dankbarkeit«, meckerte er. Die Schatten legten sich wieder über seine Gestalt, als Isobel sich von ihm entfernte und der Noc eine sanfte, einlullende Melodie zu singen begann.
»Schuf uns ein
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