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Newtons Schatten

Newtons Schatten

Titel: Newtons Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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können», sagte Doktor Clarke.
    «Ja», sagte ich. «Das mag sein.»
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    Nach dem Essen kehrte ich in mein Logis in der Maiden Lane zurück. Ich schlief unruhig, allein mit den immer noch schwelenden Erinnerungen an ihn. Ich konnte nicht behaupten, ich hätte Newton gut gekannt. Ich bezweifle, dass es überhaupt je einen Menschen, ob Mann oder Frau, gab, der das von sich hätte behaupten können. Denn er war nicht nur ein seltener Vogel, sondern auch ein scheuer. Und doch kann ich sagen, dass ich ihn eine Zeit lang so gut kannte, wie ihn irgendein Mensch kennen konnte, Mrs. Conduitt ausgenommen.
    Bis ich Newton begegnete, verhielt ich mich wie London vor dem Großen Feuer und verschwendete kaum einen Gedanken auf den baulichen Zustand meines Geistes. Doch dann sprang sein Funke auf mich über und der kräftige Wind seines Denkens entfachte die Flammen in den engen Gassen meines armseligen Hirns, wo sich der Unrat türmte, denn damals war ich jung und töricht und das Feuer griff so schnell um sich, dass es nahezu ungehindert wüten konnte.
    Wäre es nur das Feuer gewesen, welches die Bekanntschaft mit ihm selbst entzündete, dann wäre vielleicht von dem Mann, der ich war, etwas übrig geblieben. Aber hinzu kam das Feuer in meinem Herzen, entzündet durch seine Nichte, Mrs. Conduitt, oder vielmehr Miss Barton und in einem solchen Fall, wenn mehrere Feuer gleichzeitig und an so weit voneinander entfernten Stellen ausbrechen, dann erscheint die ganze Feuersbrunst als das Resultat eines breit angelegten, bösen, übernatürlichen Plans. Für einen allzu kurzen, strahlenden Augenblick war mein Himmel wie von Feuerwerk erhellt. Im nächsten Moment lag ich zerschmettert am Boden und alles war vom Feuer verzehrt. Meine Kirche irreparabel beschädigt, meine Seele zu nichts verdampft, mein Herz ein kalter, schwarzer Kohlebrocken. Kurzum, mein Leben in Schutt und Asche.
    Gewiss, nach dem Feuer kommt der Wiederaufbau. Die vielen großartigen Entwürfe Sir Christopher Wrens. Die St.-Paul's-Kathedrale. Ja, es ist wahr, ich hatte meine eigenen Projekte.
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    Die Tatsache, dass ich ein pensionierter Colonel bin, lässt wohl vermuten, dass aus der Asche meines alten Lebens etwas Neues erstand. Aber der Wiederaufbau war schwierig. Und nicht gänzlich erfolgreich. Tatsächlich denke ich manchmal, es wäre besser gewesen, wenn ich, wie König Priamos, den Neoptolemos in den brennenden Ruinen Trojas erschlug, nach unserer Trennung gestorben wäre.
    Doktor Clarke hatte nicht die Geduld, sich das alles anzuhören.
    Er neigte zweifellos immer noch zu der Ansicht, dass Doktor Newton jemand war, der die Blinden sehend gemacht hatte.
    Doch jeder Soldat wird bestätigen, dass man auch zu viel sehen kann. Selbst dem Mutigsten kann beim Anblick des Feindes das Herz in die Hose rutschen. Hätte König Leonidas mit seinen tausend Spartanern den Thermopylenpass zwei volle Tage halten können, wenn seine Männer das ganze riesige Perserheer vor sich gesehen hätten? Nein, es gibt Situationen, in denen es besser ist, blind zu sein.
    Clarke hatte gesagt, Newton habe uns den goldenen Faden in die Hand gegeben, mit dessen Hilfe wir durch Gottes Labyrinth finden könnten. Nun, so sah ich sein Werk zunächst auch. Nur dass es der Schöpfer des Labyrinths anders eingerichtet hat: dass das Labyrinth kein Ende hat, weil es unendlich ist und man an diesem Punkt der Erkenntnis zugleich die schreckliche Entdeckung macht, dass es gar keinen Schöpfer gibt. Aber das Bild des Labyrinths gefällt mir nicht so gut wie das eines Abgrunds oder Erdschlunds, in den uns Newton mit seinem System der Planeten, der fallenden Körper, der Mathematik und der Zeit ein Seil hinablässt, denn das ist eine prekärere Situation, in der die Gravitation ihr unsichtbares Wirken entfalten kann.
    Unsichtbares Wirken. Das war Newtons Spezialität. Seine Theorie der Gravitation natürlich. Oder sein Interesse an der Alchemie. Und an Chiffren. Als ich Doktor Clarke erklärte, Newton habe geglaubt, jemand, der einen irdischen Code zu entschlüsseln vermochte, könne vielleicht auch den himmlischen
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    enträtseln, da hätte ich ihm eine Geschichte von Codes und verschlüsselten Botschaften erzählen können, dass ihm die Perücke gequalmt hätte. Aber nein. Doktor Clarke hätte nicht die Geduld gehabt, sich eine Geschichte wie die meine anzuhören, denn sie ist kompliziert und außerdem bin ich Soldat, kein sonderlich redegewandter Mann. Zudem habe ich keine Übung, da ich diese

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