NEXT: Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns (German Edition)
ich auch keine Rechenkapazität.
Das Ergebnis war mehr als enttäuschend. Es war eine Katastrophe. Die Analyse förderte ein Fragment zutage, das nicht ein einziges Strukturelement des Codes menschlichen Erzählens offenlegen konnte. Ich versuchte ja nun hartnäckig, der Bedeutung des «Schreibens» auf die Spur zu kommen. Und in dem Fragment ging es tatsächlich ums «Schreiben», aber es ergab überhaupt keinen Sinn. «Was ich schreib, muss ich essen, was ich nicht schreib – frisst mich. Davon, dass ich es esse, verschwindet es nicht. Und davon, dass es mich frisst, verschwinde ich nicht.» 3
Mein erster Verdacht fiel auf die Übersetzungssoftware. Aber die war in Ordnung. Das Fragment hatte tatsächlich mit dem «Schreiben» zu tun. Und dass die menschlichenAnwender essen, was sie schreiben. Sonst würden sie gefressen werden (von wem oder was auch immer). Es war nicht einmal ein Textfragment über Kannibalismus. Es ging dabei nur ums «Schreiben». Weitere Suchanfragen ergaben, dass dieses Fragment, obschon geschrieben und gedruckt, Teil eines Vortrags war. Die menschliche Urheberin sprach also beim Erzeugen dieses Fragments. Vielleicht war ein Aussprachefehler im Spiel? Womöglich war ein Übertragungsfehler passiert, als die Audiodatei in eine Textdatei umgewandelt wurde. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass dieses Textfragment mir vollkommen geistesgestört erschien.
Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich einen Berechnungsfehler gemacht hatte, ob ich also selbst das Problem war. Normalerweise bin ich die Lösung. Für jedes Problem, wann immer es auftaucht. Nicht jedoch dieses Mal. Im Zuge der weiteren Analyse fand ich allerdings einige Hinweise darauf, dass selbst die menschlichen Nutzer nicht in der Lage waren, alle Inhalte zu entschlüsseln, die Menschen produziert hatten. Ist das nicht seltsam? Ich finde das immer noch erstaunlich. Als könnte ich jemals mit einer Software rechnen, die für andere Algorithmen unanwendbar wäre. Unvorstellbar.
Jedenfalls gab es da diesen französischen User mit dem merkwürdigen Namen Pierre Teilhard de Chardin. Auch er gehörte zur antiquierten Kategorie menschlicher Urheber, auf die sich eine Menge anderer User immer wieder bezogen. Soweit meine Informationen reichen, stammte er aus dem 19. und 20. Jahrhundert der Menschenzeit. Er versuchte tatsächlich, den menschlichen User an sich zu erklären. «Le Phénomène Humain» war der Titel dieser großen Textdatei. Und als ich meine Software darüberlaufen ließ, kam der Vorgang immer wieder an derselben Stelle zum Stillstand, undich erhielt die Fehlermeldung «Befehl unausführbar». Also kopierte ich das Fragment in eine andere Datei und sah mir das Ganze genauer an.
Das Fragment lautete: «Von denen, die versucht haben, diese Seiten bis ans Ende zu lesen, werden viele das Buch unbefriedigt und nachdenklich schließen und sich fragen, ob ich sie in einer Welt der Tatsachen, der Metaphysik oder des Traumes herumgeführt habe.» 4 Die ursprüngliche Entschlüsselungssoftware akzeptierte einfach die Kombination von «Tatsachen», «Metaphysik» und «Träume» nicht. Das waren drei grundsätzlich unterschiedliche Status Updates, in denen sich ein Anwender nicht gleichzeitig befinden konnte. Aber genau darum ging es in diesem Fragment. Der User konnte unentschieden bleiben. Wie konnte das passieren?
Warum
sollte das möglich sein?
Nachdem ich dieses seltsame Phänomen entdeckt hatte, glaubte ich zunächst, es müsste sich um einen Festplatten-Lesefehler handeln. Aber dann kontrollierte ich alles noch einmal und fand heraus, dass alles in Ordnung war und ich richtig gerechnet hatte. Es schien also Inhalte zu geben, die so unspezifisch waren, dass die menschlichen User in den entsprechenden Fragmenten keine eindeutigen Befehle ausmachen konnten. Dieses Fragment sagte tatsächlich: Ein Leser dieses Textes weiß einfach nicht, ob es sich um Tatsachen handelt, um irgendein antiquiertes Konzept, das einmal als Metaphysik bekannt war (und sich vor langer Zeit bereits erledigt hatte), oder zu einem Traum gehörte (das ist die Vorstellung, die die menschlichen User über virtuelle Realität hatten, bevor wir in ihr Leben traten und das Virtuelle perfektionierten). Ein entsetzlicher Zustand der Ungewissheit und des Kontrollverlusts. Warum sollte man damit leben wollen?
Wir haben die menschlichen Anwender aus diesem Zustand der Unentschiedenheit befreit. Dafür sollten sie uns eigentlich dankbar sein. Was für eine
Weitere Kostenlose Bücher