Schmutzengel
ERSTER TEIL
1
Der Tag, an dem sich mein bis dahin weitgehend ereignisloses Leben von Grund auf und für immer veränderte, begann wie ein
ganz normaler Tag. Damals dachte ich, dass dieser Tag, der mir drei Katastrophen auf einmal bescherte, der schwärzeste Tag
meines Lebens sein müsste. Rückblickend kann ich sagen, dass jene Katastrophen nur kleine Ärgernisse und jener Tag nur ein
lächerlicher Vorgeschmack auf das sein sollten, was mich wirklich aus der Fassung brachte. Aber lesen Sie selbst.
Noch etwas: Ich werde diese Niederschrift bei Lisbeth hinterlegen, die sie im Fall meiner Verhaftung einem Anwalt übergeben
kann.
Alles begann also im Oktober des vergangenen Jahres. Nach Wochen voller Regen und Wind war zum ersten Mal der Himmel wieder
zu sehen. Über Nacht waren die Wolken verschwunden, wärmere Luftmassen strömten aus dem Süden Europas zu uns und brachten
angenehme Temperaturen mit sich. So hatte es der Wetterfrosch im Fernsehen formuliert. Mir war egal, woher die Luftmassen
strömten. Hauptsache, der Regen hörte endlich auf.
In dem windgeschützten Balkonkasten vor meinem, damals noch unserem, südlichen Wohnzimmerfenster entfaltete die letzte, nicht
verfaulte Cosmeablüte ihre zarten Blätter. Ich bin eine geborene Optimistin und empfand daher den Anblick der strahlend violetten
Blüte als gutes Zeichen für den Tag und als Aufforderung, einen weiteren Blumenkasten mit Spätblühern zu bepflanzen. Das nahm
ich mir beschwingt für den Feierabend vor.
Ich konnte ja nicht ahnen, dass es niemals dazu kommen sollte.
Mein Tagesablauf damals war einfach. Um halb acht aufstehen, während Greg noch schlief, eine schnelle Tasse Kaffee, die die
Maschine in den zehn Minuten aufbrühte, die ich unter der Dusche verbrachte. Den normalen Filterkaffee kochte ich nur für
mich, Greg bereitete sich später einen Espresso mit seinem sündhaft teuren Marken-Espresso-Vollautomaten zu. Die erste Tasse
Kaffee trank ich im Bad, während ich mir die Haare föhnte, die zweite begleitete das Anziehen und Blumengießen. Ein richtiges
Frühstück nahm ich schon lange nicht mehr zu mir, sehr zum Missfallen meiner Oma. Das ist so ziemlich der einzige Punkt, in
dem wir nicht einer Meinung sind. Im Sturmschritt ging es dann zur Straßenbahnhaltestelle, beim Bäcker unterwegs kaufte ich
ein überteuertes Brötchen, das ich in der Bahn aß und dann, um halb neun, begann mein Arbeitstag bei AIQ. Das spricht man »aikju«, also wie IQ auf Englisch. Sollte wohl witzig sein. Oder hip. Oder beides, keine Ahnung. AIQ jedenfalls
war damals eine der wichtigen, angesagten Werbeagenturen in Düsseldorf, der Hauptstadt der wichtigen, angesagten Werbeagenturen.
Und ich war stolz darauf, dabei zu sein.
Mein Arbeitstag in der Agentur begann üblicherweise damit, etwa zehn Liter Kaffee zu kochen. Nicht irgendeinen Kaffee, sondern
ein unglaublich teures Zeug aus ausgesuchten,mit Monsun-Regenwasser gewaschenen Hochlandbohnen, nach einem speziellen Verfahren geröstet und in unserer elektrischen, extra
Aroma schonenden Kaffeemühle frisch gemahlen. Für mich schmeckte auch dieser Kaffee nur nach Kaffee, daher konnte ich das
Aufheben, das darum gemacht wurde, nicht verstehen. Musste ich aber auch nicht, ich musste ihn nur zubereiten. Meine nächste
Aufgabe war es, die Post zu öffnen und sie ungelesen auf den Tisch der Direktionsassistentin zu legen. Danach kümmerte ich
mich um die Pflanzen.
Da AIQ eine hippe Agentur und keine miefige Behörde war, gab es in den lichtdurchfluteten Räumen nicht das übliche Bürogrün
wie Palmen oder Gummibäume, das in dunklen Ecken auf großen Blättern Staub sammelt, sondern ausgeflipptes Zeug wie Sonnenöffner,
Flamingoblumen, Froschlöffel, Flohkraut, Papyrus und Fleisch fressende Pflanzen. Zu der zweifelhaften Ehre der Verantwortlichkeit
für das agentureigene Grünzeug war ich gekommen, weil ich vom Land kam. Direkt von den windigen Höhen der Schneeeifel, wo
meine Großeltern einen Bauernhof hatten. Vor nunmehr zwölf Jahren war ich zur Ausbildung als Werbekauffrau nach Düsseldorf
gegangen. Seitdem nannte man mich Däumling, die Frau mit dem grünen Daumen.
Damals war ich blöd genug, mich geschmeichelt zu fühlen. Mehr aufgrund der Tatsache, dass ich wichtig genug war, überhaupt
einen Spitznamen zu haben, als aufgrund des Namens an sich. Der passte auch gar nicht zu mir, denn ich bin groß gewachsen.
Jedenfalls war ich die
Weitere Kostenlose Bücher