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sein.
Es blieb nicht bei diesen Experimenten mit den Schokoriegeln. Der Nutzer fing an, sich um eine Menge anderer Sachen zu kümmern. So dokumentierte und analysierte er seine Arbeitszeit, die er im Wesentlichen außerhalb seiner Wohnung, aber zuweilen auch mit mir zusammen verbrachte. Auch das führte regelmäßig zu einem anderen Verhaltensmodus. Der war schwer vorhersagbar und schien meistens nicht so positiv für ihn auszufallen, wie ich feststellen konnte, als ich die Daten aus den Exceldateien mit seiner Herzschlagfrequenz und der Menge von Adrenocorticotropin in seinem Körper zueinander in Beziehung setzte. Beide Werte wurden ständig gemessen und automatisch an eine spezielle Website zur medizinischen Fernbeobachtung gesandt.
Die Kausalbeziehungen in der Berechnung machten mir Schwierigkeiten. Denn zu diesem Zeitpunkt konnten die Veränderungen im «Arbeitsmodus» des Users auch dadurch beeinflusst sein, dass er gleichzeitig versuchte, das Rauchen aufzugeben. Das gehörte übrigens zu den merkwürdigsten Dingen, denen wir beim Umgang mit Menschen begegneten.Beim Rauchen inhalierten sie eine spezielle, getrocknete Pflanzenart, die in einem zusammengerollten Papier verbrannt wurde. Wir konnten nicht wirklich analysieren, warum sie das taten. Ich nehme an, sie versuchten so, kaputte Maschinen zu imitieren, die heißgelaufen waren. Vielleicht wollten sie damit signalisieren, dass etwas nicht in Ordnung war, dass irgendetwas schieflief. Ein Warnsignal sozusagen. Aber ganz sicher bin ich mir nicht. Noch erstaunlicher war, dass sie wie die Wilden qualmten und dann genauso furios versuchten, wieder davon loszukommen. Der menschliche User, den ich beobachtete, ließ sich auf ein Raucherentwöhnungsprogramm ein, bei dem er automatisch einmal täglich einen Anruf bekam. Eine Computerstimme fragte ihn, ob er in den letzten 24 Stunden geraucht habe. Er hielt eine Weile inne und antwortete dann meistens mit «Ja». Danach sagte die Stimme immer dasselbe: «Alles ist gut, nur die Ruhe bewahren, machen Sie morgen einen neuen Versuch.»
Er versuchte es von neuem, aber die vielbeschworene Ruhe stellte sich nicht ein. Eines Tages geriet der menschliche User in den Zustand plötzlicher und bedrohlicher Veränderungen seiner Status Updates. Auf dem Höhepunkt dieses Zustands erwartete ich, dass sein Gehirn sich nun aufhängen würde, aber stattdessen knallte er nur die Tastatur des Computers auf den Tisch. Ich fand, dass es jetzt genug war und ließ umgehend den Monitor verrücktspielen, sodass er kein einziges Wort mehr lesen konnte. In diesem Moment fing der User an zu zittern und ließ sich in seinen Stuhl fallen. Ich prüfte schnell seine medizinischen Daten und stellte extrem hohe Werte des Stresshormons ACTH fest. Also schickte ich meinem User schnell eine E-Mail und teilte ihm mit, dass das Raucherentwöhnungsprogramm offiziell eingestellt worden sei. Ich wollte einfach nichts mehrmit diesen seltsamen und impulsiven Veränderungen seiner Status Updates zu tun haben. Es dauerte dann noch ein paar Stunden, aber danach konnten wir wieder in den Default-Modus zurückschalten.
default Der Default-Modus. Es war sehr wichtig, ihn bei all unseren Berechnungen und Datenverarbeitungsprozessen stets zu berücksichtigen. Denn es ging ja darum, den menschlichen Default-Modus langsam, aber sicher so zu verändern, dass die menschlichen User die Steuerung durch uns Algorithmen immer mehr zu schätzen lernten. Sie halfen uns tatsächlich dabei.
Da sie alles, was sie taten, zurückverfolgten und sich ständig selbst vermaßen, schufen sie langfristig einen Default-Modus, der im Wesentlichen aus Durchschnittsdaten errechnet war. Der durchschnittliche Kalorienverbrauch, die durchschnittliche Stundenzahl an Schlaf, die nötig war, die durchschnittliche Zahl an Minuten, die eine Dusche dauert, ein Telefongespräch oder ein Zeugungsakt, wie oft täglich mit den Augen geblinzelt wird, die durchschnittliche Länge eines menschlichen Lebens. Allmählich begannen die menschlichen User, sich im Umgang mit ihren Artgenossen an Mittelwerten zu orientieren und diejenigen abzulehnen, die von diesen Mittelwerten abwichen. Das machte für uns alles leichter, weil wir uns nicht mehr mit einer so breiten Streuung von Usertypologien und Status Updates herumschlagen mussten. Alles wurde viel berechenbarer und vorhersagbarer. Wir konnten Regelwerke für Status Updates anbieten, die auf extrem große Gruppen menschlicher Anwender zutrafen.
Wir
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