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Nibelungen 01 - Der Rabengott

Nibelungen 01 - Der Rabengott

Titel: Nibelungen 01 - Der Rabengott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Geburt geweiht, ihr seid wie Brüder, er weiß das, du weißt das.« Bärbart sprach, als rezitiere er eine Zauberformel, seltsam gleichförmig, unbetont. »Du wirst durch den Spalt gehen und auf der anderen Seite zum zweitenmal geboren werden. Schließt sich der Spalt innerhalb der nächsten Jahre, so weiß jeder, daß du geheilt bist. Was immer dir in den vergangenen Tagen widerfuhr, die Spuren werden verblassen.«
    Hagen wußte das alles längst, jedes Kind in dieser Gegend kannte die Regeln der Zweiten Geburt. Dennoch gehörte die Unterweisung durch den Zeremoniemeister zum Ritual.
    »Du und der Baum«, fuhr Bärbart fort, »ihr werdet nach deiner Heilung eng miteinander verbunden sein, enger, als dies zwei Menschen jemals sein könnten. Nicht Mann und Weib, nicht Kind und Mutter. Du und der Baum, ihr werdet im Angesicht der Götter eins sein. Scheidest du dereinst aus dem Leben, so wird dein Geist in den Stamm fahren und in ihm weiterleben.« Er sah dem Jungen eindringlich in die Augen, bis Hagen glaubte, nicht nur sein Körper sei nackt, sondern auch seine Gedanken. Zum ersten Mal wurde ihm bewußt, wie sehr er fror. Aber Kleidung war während des Rituals nicht gestattet.
    »Hast du alles verstanden?« fragte Bärbart streng.
    »Ja.«
    »Bist du bereit, die Zweite Geburt zu vollziehen?«
    »Ich bin bereit.«
    Bärbart hob die Stimme, so daß alle ihn hören konnten. »Die Zeremonie kann beginnen!«
    Stille legte sich über die Menge der Burgbewohner. Nur das Knistern der Fackeln und das Flüstern des Flusses waren zu hören. Hagen schien es, als vernähme er Stimmen im Rauschen der Strömung, ein Glucksen voller Schadenfreude, ein Wispern in der Finsternis.
    Adalmar trat vor und zog seinen Sohn kraftvoll an sich. Er umarmte ihn, als sei dies ein Abschied für immer, die Geste eines Kriegers vor der Schlacht. Dann trat er einige Schritte zurück. Nur Bärbart blieb bei Hagen am Baum, nahm jedoch an der bergabgewandten Seite Aufstellung, um den Jungen dort entgegenzunehmen.
    Hagen stand ganz allein zwischen Eiche und Abgrund, sein nackter weißer Körper schimmerte wie ein Geist in der Dunkelheit. Die Nacht schien ihn zu liebkosen, mit ihrem Versprechen von Stille und Schlaf, doch da war noch etwas anderes. Die Stimme der Strömung raunte Geheimnisse zu ihm empor, deren Bedeutung unterwegs verlorenging. Der Fluß schien eine Kälte auszustrahlen, die sogar den frostigen Wind übertraf.
    Die Rinde des Baumes fühlte sich hart und spröde an, als Hagen sie mit beiden Händen berührte. Bärbart stimmte im gleichen Augenblick ein leises Summen an, eine langsame, schwerfällige Melodie, die von der Menge aufgegriffen wurde. Bald schon wurde die Stille vom düsteren Singsang der Menschen verdrängt. Einen Moment lang glaubte Hagen, der Fluß stimme mit ein.
    Er legte die Hände an die Holzwülste, die den Spalt wie ein Paar riesiger Lippen flankierten. Sachte steckte er den Kopf ins Innere des Stammes, den Blick dabei fest auf das andere Ende gerichtet, auf einen schmalen Ausschnitt der Menge. Dort standen, Zufall oder Vorsehung, der Pfaffe und die Gräfin. Beide beteten immer noch stumm zu ihrem Christengott, hielten fest die Augen geschlossen. Alle anderen sahen gebannt zum Baum herüber.
    Auch Hagen wollte die Lider schließen, aber sie flackerten und zuckten nur, verweigerten ihm die Blindheit. Zitternd schob er die Schultern durch den Spalt. Die Öffnung war zu eng, die Rinde riß seine Haut auf. Er spürte, wie Blut über seine Oberarme rann; in der eisigen Nachtluft fühlte es sich kalt wie Eiswasser an.
    Er kletterte weiter, zog die Brust hinterher. Sein Gesicht kam auf der anderen Seite schon wieder zum Vorschein. Immer mehr Holzsplitter bissen in seine Haut, bald schon war er bis zur Hüfte voller Blut. Als Bärbart schließlich nach ihm griff und ihm wie eine Amme beim Austritt aus der Baumspalte beistand, da war sein Körper tatsächlich so rot und naß wie ein Neugeborenes.
    Die Zweite Geburt war vollzogen.
    Hagen fühlte sich genauso kraftlos wie zuvor, nur waren jetzt zahllose Wunden hinzugekommen, winzig klein, aber schmerzhaft. Sein ganzer Körper schien in Flammen zu stehen. Seine Knie gaben nach, er sackte in Bärbarts Armen zusammen. Sogleich eilten Tilda und zwei andere Frauen herbei und hüllten ihn in Decken.
    Als man ihn vorsichtig auf die Trage legte, hörte er Bärbarts leise Worte: »Die Jahre werden zeigen, ob die Heilung gelungen ist.« Dabei strich er mit der Rechten über den blutigen

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