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Nibelungen 01 - Der Rabengott

Nibelungen 01 - Der Rabengott

Titel: Nibelungen 01 - Der Rabengott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Rand der Spalte, senkte den Kopf, bis seine Hörner gegen die Rinde stießen.
    Hagen wurde fortgetragen, zurück zur Burg. Rote Schleier schwirrten vor seinen Augen. Er wußte nicht, ob er phantasierte, als er die raunende Stimme seiner Mutter vernahm, ganz nahe an seinem Ohr:
    »Weißt du, was man über die Zweite Geburt sagt, Hagen? Fällt man den Baum, der den Geheilten geboren hat, und läßt man ihn als Teil eines Schiffes zu Wasser, so entsteht daraus ein Klabautermann.« Flüstern und Wispern in seinem Schädel, eine Spirale aus Warnungen, Drohungen, ein Versprechen. »Ein Wassergeist entsteht, mein Sohn. Ein Teufel.«
     

     
    Zwei Wochen vergingen, ehe Hagen sein Lager verlassen konnte, auf eigenen Füßen und ohne die Begleitung anderer. Sein erster Weg führte ihn hinaus aus dem Burgtor, die Klippe hinauf, zum Baum. Seinem Baum.
    Er fragte sich, ob die Eiche etwas ähnliches dachte. Ihr Mensch.
    Nein, dachte er lächelnd, Bäume denken nicht.
    Aber sie gebären auch keine nackten Jungen.
    Das hat sie nicht, widersprach er sich selbst. Es war nur eine Zeremonie, etwas, das man tut, um die Götter für sich einzunehmen.
    So, war es das? Erinnere dich an Bärbarts Worte: Du und der Baum, ihr werdet eins sein! Das war es, was er gesagt hat. Besser, du glaubst ihm.
    Eins sein! schoß es ihm durch den Kopf. Und wieder, eindringlicher: Eins sein!
    Verunsichert blieb Hagen vor der Eiche stehen, in sicherem Abstand. Sein Vater hatte einen Wächter, mit Schwert und Spieß bewaffnet, am Fuß des Baumes Stellung beziehen lassen. Der Mann nickte Hagen grüßend zu, aber seine Freundlichkeit wirkte aufgesetzt. Nicht, daß er den Grund seiner Wache nicht einsah; ganz im Gegenteil, er verstand sehr wohl, was es mit der Eiche auf sich hatte. Gerade deshalb fürchtete er sie.
    Hagen konnte es ihm schwerlich verübeln. Die Nähe zwischen sich selbst und dem Baum, die Bärbart heraufbeschworen hatte, mochte da sein, doch viel war von ihr nicht zu spüren. Was da vor ihm stand, groß und mit weitverästelter Krone, war nichts als ein knorriger Baum, sehr viel älter als er selbst, und das Dämonische, das von ihm auszugehen schien, mochte nicht mehr sein als die Furcht der Jugend vor dem Alter.
    Unterhalb der Klippe brauste immer noch das Hochwasser vorüber, es hatte während der vergangenen Tage kaum nachgelassen. Die Alten raunten sich in den Fluren der Burg zu, dies sei die längste Flut, von der sie je gehört hätten.
    Der Wächter machte zwei Schritte auf Hagen zu. »Ich erwarte Euch am Fuß der Klippe, Herr.«
    Hagen runzelte verwundert die Stirn. »Warum bleibst du nicht?«
    »Der Weise Bärbart trug mir auf, Euch, wann immer Ihr mögt, mit dem Baum alleinzulassen. Er sagte, es gäbe vielleicht Dinge, die Ihr mit ihm… besprechen müßtet.« Unruhe glomm wie ein Funke in den Augen des Mannes.
    »Besprechen?« wiederholte Hagen.
    »Das war das Wort, das Bärbart gebrauchte.« Der Mann deutete eine Verbeugung an. »Wenn Ihr also erlaubt…« Und damit war er bereits an Hagen vorbei und eilte den Hang hinunter. Vom Ödland der abgeholzten Bäume trat er in den Schatten des Waldes und verschwand darin. Jenseits der Wipfel kauerte die Burg auf ihrem Bergrücken wie ein kraftloser Riese aus Stein.
    Hagen sann nicht länger über das merkwürdige Verhalten des Postens nach. Statt dessen trat er einige Schritte vor. Als er jene Stelle erreichte, an der während der Zeremonie seine Mutter mit dem Pfaffen gestanden hatte, fiel sein Blick geradewegs auf den Spalt. Die Sonne schien grell, und der Himmel war von strahlendem Blau; das hätte er auch jenseits der Öffnung sein müssen.
    Doch der Spalt war schwarz. Ein finsteres, pupillenloses Auge, das Hagen starr entgegenglotzte.
    Er begann zu frösteln, spürte, wie sein Atem schneller ging.
    Die Öffnung blieb schwarz. Etwas verdeckte sie von der anderen Seite.
    Hagen keuchte auf, als ihn die Erkenntnis traf.
    Jemand stand hinter dem Baum!
    »Wer ist da?« fragte er leise, in einer Tonlage, die das Kind in ihm verriet. Er hätte sich herumwerfen und fliehen können, aber was hätte dann der Wächter von ihm gedacht?
    Vielleicht spielte ihm jemand einen Streich.
    »Dankwart? Bist du das?«
    Der Gedanke schien ihm einleuchtend, und er faßte neuen Mut. Langsam machte er zwei, drei Schritte auf den Baum zu. Wenn es wirklich sein Bruder war, der sich hinter dem Stamm verbarg, dann würde er ihm die frechen Scherze austreiben.
    Nichts rührte sich. Der Baum stand hoch und

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