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Nibelungen 01 - Der Rabengott

Nibelungen 01 - Der Rabengott

Titel: Nibelungen 01 - Der Rabengott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ein wenig änderte, dann sah er durch die Öffnung das andere Ufer, düster und schlummernd im Mondenschein.
    Mit einem Ruck riß er den Kopf zurück, schaute um den Stamm herum. Er sah das Ufer jenseits des Flusses, rotgelbe Wälder im Licht der Herbstsonne.
    Noch ein Blick durch den Spalt. Dahinter herrschte abermals Finsternis.
    Soviel Dunkelheit in jeder Nacht, daß sie nicht von einem Tag auf den anderen aufgebraucht wird; irgendwohin muß der Rest verschwinden. Warum nicht in diesen Baum?
    Einen Moment lang schien das fast vernünftig.
    Hagen taumelte zurück, stolperte, landete auf dem Boden.
    Was, bei allen Göttern, war das?
    Er rappelte sich auf, trat noch einmal näher an den Baum. Ganz langsam hob er die rechte Hand, überlegte, ob er sie in den Spalt stecken sollte. Widerwillig berührte er die hölzernen Lippenwülste. Es war viel kälter im Inneren des Baumes; mit der Dunkelheit hatte sich auch die Frische der Nachtluft im Eichenstamm eingenistet.
    Wieder machte er sich daran, den Baum zu umrunden, und diesmal zögerte er nicht, sich in die Nähe des Abgrundes zu wagen. Es war niemand da, der ihn hinabstoßen konnte. Niemand, außer ihm selbst.
    Die Rückseite der Eiche war in Sonnenschein gebadet. Hagen bückte sich, blickte nun von der anderen Seite durch den Spalt. Von hier aus hätte er den Waldrand sehen müssen, davor das Feld der Baumstümpfe.
    Aber er sah Fackeln. Züngelndes, zuckendes Fackellicht. Eine Menschenmenge unter dem Nachthimmel. Und davor seine Mutter und der Priester, beide betend, die Augen geschlossen.
    Es war das gleiche Bild, das er gesehen hatte, als er vor zwei Wochen zum ersten Mal durch den Stamm geschaut hatte, unmittelbar bevor er hindurchgekrochen war.
    »Der Baum hat seine Unschuld verloren«, sagte plötzlich eine Stimme jenseits der Eiche. »Das feine Gespinst der Wirklichkeit in seinem Inneren ist zerrissen. Der Augenblick der Zweiten Geburt wird für immerdar in ihm gefangen sein.«
    Hagen schrak zurück, taumelte, verlor das Gleichgewicht. Seine Ferse trat auf den Rand der Klippe, rutschte ab. Er schrie auf, ein Kreischen in höchster Panik, als sich der Fluß unter ihm auftat wie ein Maul. Die Oberfläche war grau und trübe, trotz des blauen Himmels.
    Finger schossen vor, umfaßten sein Handgelenk. Zwei, drei Atemzüge lang schwebte Hagen über dem Abgrund, stumm, erstarrt, unter sich nichts als die Tiefe.
    Jemand riß ihn zurück auf festen Grund. Das Maul des Flusses schloß sich wieder.
    »Eine Dritte Geburt kann es nicht geben«, sagte Bärbart.

Kapitel 3  
    ieso hörst du auf?« Nimmermehrs Stimme klang atemlos. Zum ersten Mal seit langem bewegte sie sich wieder. Während Hagen geredet hatte (und geredet und geredet), war sie stumm geblieben, hatte ihn kein einziges Mal unterbrochen.
    Er erforschte die Leere hinter seinen Augenlidern. »Ist es schon abend?«
    »Schon lange. Es ist stockdunkel.«
    Unwirsch tastete er nach den Zügeln in ihren Händen, zog heftig daran. »Dann laß uns rasten. Es ist gefährlich, im Dunkeln zu reiten. Zumal so nahe bei einem Schlachtfeld – wer weiß, wer sich in dieser Gegend herumtreibt.«
    »Leichenfledderer? Plünderer?«
    »Vielleicht, ja.«
    Nimmermehr sprang von Paladins Rücken und seufzte, als wollte sie damit klarstellen, daß sie keineswegs einverstanden war. »Wenn du meinst«, sagte sie gedehnt.
    »Ich soll doch dafür sorgen, daß dir nichts zustößt, oder?« Er spürte, daß er schärfer klang als nötig, aber er konnte nichts dagegen tun. Er mochte sonst nichts über Nimmermehr wissen, doch eines hatte er längst erkannt: Sie konnte ungemein anstrengend sein.
    Das Mädchen gab keine Antwort. Geräusche verrieten, daß sie Decken auf dem Boden ausrollte. Mochten die Götter wissen, woher sie sie genommen hatte; sie mußten am Sattel gehangen haben, ohne daß Hagen sie bemerkt hatte. Kleinigkeiten wie diese verunsicherten ihn mehr als alles andere.
    Zögernd ließ er sich vom Rücken des schnaubenden Pferdes zu Boden gleiten. Auch als er schon Fels unter den Füßen spürte, hielt er sich weiter am Sattelknauf fest.
    »Beschreib mir, wo wir sind«, verlangte er und setzte mit einer Hand den Helm ab.
    »Es ist dunkel«, sagte sie trotzig. »Ich kann nichts sehen.«
    »In freiem Gelände ist es niemals so dunkel, daß man nichts sieht.« In seiner Lage war das eine so absurde Aussage, daß er scharf die kühle Nachtluft einsog, ehe er weitersprechen konnte: »Wie hat es ausgesehen, bevor es dunkel

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