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Nibelungen 02 - Das Drachenlied

Titel: Nibelungen 02 - Das Drachenlied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander (Kai Meyer) Nix
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streckte ganz langsam den Arm nach dem Vorhängeschloß aus. Noch ein Schritt.
    Ugo hob die Hand, die das Ende von Marrets Kette hielt. »Ich werd’ dich lehren, mir Ekel zu bereiten!« schrie er und wollte die Kette in Marrets Gesicht schlagen.
    Im selben Augenblick sprang Löwenzahn von seinem Lager auf, stieß Mütterchen beiseite, krachte gegen das Gitter und ließ seinen Arm hinausschießen. Es gelang ihm, Ugos nach hinten ausholende Hand zu packen. Der fette Junge schrie auf.
    Mütterchen fluchte und rappelte sich vom Boden auf. Fast hatte sie den Schlüssel gehabt! Mußte der Riese ausgerechnet jetzt den Helden spielen? Bald schon würden zwanzig Krieger am Gitter sein, um dem Grafen beizustehen.
    Vielleicht, wenn sie schnell genug war, mochte sie den Schlüssel vorher packen und –
    Doch soweit kam sie nicht mehr.
    Im selben Moment ging der erste der drei Seilzüge in Flammen auf. Einen Herzschlag später der zweite, fast gleichzeitig der dritte. Innerhalb eines Atemzugs brach Panik aus. Der Innenhof verwandelte sich in ein einziges Chaos aus Geschrei und trampelnden Menschen. Das lauteste Brüllen aber drang aus den drei Gruben empor. Flammenregen ergoß sich von den Seilzügen in die Löcher und verbrannte die Arbeiter bei lebendigem Leibe.
    Vor Schreck entglitt Löwenzahn Ugos Arm.
    »Der Drache!« schrie der Junge und schien die Attacke des Riesen noch im selben Augenblick zu vergessen. Er ließ Marrets Kette fallen und sprang in wildem Freudentaumel auf und ab. »Sie sind auf eine Feuerader gestoßen! Endlich! Endlich Feuer!«
    Mütterchen verschwendete keine Zeit damit, sich über das Gestammel des Wahnsinnigen zu wundern. Sie sprang vor und streckte die Hand durchs Gitter nach dem Schlüssel aus.
    Marret war schneller. In Windeseile war das Mädchen heran und zog den Schlüssel aus dem Vorhängeschloß.
    »Marret, verdammt!« rief Mütterchen. »Gib ihn her!«
    Aber das Mädchen, die Augen vom Irrsinn verschleiert, schwenkte den Schlüssel in der Hand und rief dem hüpfenden Ugo zu: »Herr Graf, Ihr habt Euren Schlüssel vergessen! Hier, Euer Schlüssel, Herr Graf!«
    Mütterchen brüllte vor Wut, und auch Löwenzahn begann wie ein wildgewordenes Tier an den Stangen zu rütteln. Es war offensichtlich, daß Marret gar nicht wußte, was sie tat. Sie winkte nur weiter mit dem Schlüssel, ging aber in die Knie, weil die Schmerzen von Ugos Tritten sie abermals überkamen.
    Der irre Graf beachtete sie nicht. Er hatte nur Augen für den Hexenkessel, in den sich der Hof der Festung in Windeseile verwandelte. Angst und Kreischen breiteten sich schneller aus als das Feuer rund um die Seilwinden. Die Flammen rasten an den Stricken entlang in die Tiefe, aber auch nach rechts und links zu den Verankerungen am Boden und in den Mauern. Die Drachenkrieger mühten sich vergeblich, die Sklaven unter ihre Knute zu zwingen. Schon erhoben sich die ersten Arbeiter gegen ihre Peiniger. Es war, als wäre ein Bann von den geknechteten Männern und Frauen gewichen. Einige standen umher, als wüßten sie gar nicht, wie sie an diesen Ort gekommen waren.
    Mütterchen erinnerte sich schmerzlich an das, was der Geweihte ihr selbst angetan hatte, das tückische Tasten und Fühlen in ihrem Geist. War seine Macht groß genug, Hunderte von Sklaven in seine Gewalt zu zwingen?
    »Marret, gib den Schlüssel her!« rief sie wieder und versuchte vergeblich, durch die Stäbe nach dem Mädchen zu greifen. Marret stand einen knappen Schritt zu weit entfernt. Der Glanz der Flammen brach sich auf der Oberfläche des Schlüssels. Das Mädchen hob ihn vors Gesicht und betrachtete ihn eingehend.
    »Euer schöner Schlüssel, Herr Graf!« weinte sie und versuchte vergeblich, wieder auf die Beine zu kommen. »Laßt uns damit spielen, Herr Graf!«
    Ugo aber taumelte von ihr fort in die Richtung der Seilwinden. Ein Krieger entdeckte ihn und wollte auf ihn zustürzen, doch ein anderer hielt ihn an der Schulter zurück, schüttelte den Kopf und deutete zum Wehrgang auf der Mauer, auf einen Punkt geradewegs über dem Kerker. Mütterchen konnte vom Gitter aus nichts erkennen; wohl aber bemerkte sie, daß auch von anderen Stellen des Hofes die Drachenkrieger auf eine Treppe zurannten, die hinauf zu den Zinnen führte.
    »Marret!« schrie sie so laut sie nur konnte, denn der Lärm auf dem Hof war ohrenbetäubend.
    Zum ersten Mal fruchteten ihre verzweifelten Mühen. Das Mädchen erkannte seinen Namen und wandte zögernd den Kopf zum Gitter.
    »Ja, bitte?«

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