Türme & Tote (Schundheft) (German Edition)
Ob sie wollen oder nicht
Aha, schon wieder! Die Schnappschildkröte von Irsee! Belinda Baumann war versucht, die Allgäuer Zeitung dorthin zu feuern, wo sie früher oder später sowieso landen würde, in den Höllenschlund ihres Papierkorbs. Noch immer war es Sommer, noch immer arbeitete sich die Presse an diesem lächerlichen Thema ab. Und nicht nur die Kaufbeurer! Sogar in Übersee stieß der Fall des Jungen, dem angeblich eine Schnappschildkröte im Oggenrieder Weiher die Achillessehne durchtrennt hatte, auf Interesse. Selbst in Neuseeland, das musste man sich mal vorstellen! Hatten die dort keine exotischen Biester, irgendwelche Alligatoren, die in flachen Gewässern lauerten und sich nicht nur mit Achillessehnen zufrieden gaben?
Aus der beruflichen Perspektive war der Coup mit der angeblichen Schnappschildkröte, die natürlich niemals eines Menschen Auge erblickt hatte, eine höchst bewundernswerte Leistung, das gab Belinda Baumann zähneknirschend zu. Seit sie für die Kaufbeurer Fremdenverkehrswerbung verantwortlich war, suchte sie nach Ideen – und hatte auch durchaus welche gehabt. Nun ja... »Besuchen Sie die Stadt der sieben Türme«, das klang zu bieder. »Über sieben Türme musst du gehen«, damit lockte man nicht einmal Peter-Maffay-Fans an. Okay, die Katze im Eiscafé, darüber hatte dann sogar der Füssener Bote kurz berichtet. Ein Stubentiger, der eisessende Gäste schnurrend überfiel, sich auf ihre Schöße setzte, streicheln ließ und dabei schnurrte. Aber was war eine niedliche kleine Katze gegen eine hässliche Schnappschildkröte, zumal eine, die es in ganz Europa nicht geben durfte, sondern nur in Amerika? Ob man vielleicht in der Wertach ein paar Piranhas...? Oder wenigstens so tun, als sei einem harmlosen Angler ein Finger angeknabbert worden?
Belinda Baumann legte die Zeitung sorgfältig zusammen, bevor sie sie dem Papierkorb überantwortete. Sie hatte Stil, war nüchtern, trug hellblaue Kostüme mit Rüschenblusen und ließ auch niemals, wie ihre Freundin Mona, an heißen Tagen das Höschen weg. Mehr noch: Belinda Baumann hatte ein Diplom in Stadtmarketing, sie sollte eigentlich in München arbeiten oder wenigstens in Augsburg. Stattdessen war sie in Kaufbeuren gelandet, einer Stadt, von der nur ihr Vater gehört hatte, weil er leidenschaftlicher Eishockeyfan war.
Sie stand seufzend auf und ging zur Toilette, um im Spiegel die vor lauter Tränen des Zorns verschmierte Wimperntusche zu begutachten und ihre Bemalung wieder auf mitteleuropäisches Niveau zu bringen. Kurz vor halb zehn. Sie freute sich auf das Frühstück im Hotel am Turm , auch wenn es mit einem Arbeitsgespräch verbunden war, die Hoteliers der Stadt pochten auf »Aktionen, Aktionen, Aktionen!« Schließlich war Kaufbeuren keine x-beliebige Stadt. Kaufbeuren war ein touristisches Kleinod – und musste dringend ein funkelndes Diadem am Hals des Allgäus werden. Hm... Klang nicht schlecht, überlegte Belinda und nahm sich vor, den Einfall sofort zu notieren.
Aber heute war nicht ihr Tag. Brauchte eine mittelalterliche Stadt wirklich noch mehr Mittelalter, also Kopfsteinpflaster? Sah nett aus, war aber Gift für Belindas High Heels. Einmal schon war ihr ein Absatz abgebrochen und sie selbst um ein Haar gestürzt. Aber sie würde auch diesen Unbillen der Stadtarchitektur trotzen.
Am Busbahnhof, »Plärrer« genannt (wohl wegen der vielen Schulkinder, die hier ihr ADHS und andere Defizite pflegten), wartete eine einzelne ältere Frau auf die nächste Verbindung nach – Irsee. Schon wieder Irsee! Belinda Baumann schüttelte so resolut den Kopf, dass sie beinahe das Gleichgewicht verlor. Nein, wie gesagt, nicht ihr Tag. Bei Germany's Next Topmodel wäre sie im hohen Bogen rausgeflogen.
Was nun geschah, stand später im Polizeibericht mit der lapidaren Bemerkung »Noch ungeklärt ist..«. Anstatt sogleich das Hotel am Turm zu betreten, ging Belinda daran vorbei und steuerte schwankend (so jedenfalls hatte es die ältere Frau zu Protokoll gegeben: »schwankend, Herr Wachtmeister, ich glaub, die war besoffen! Um halb zehn! In Kaufbeuren! Ja, sind wir hier denn in München?«) den Sywollenturm an, nur ein paar Schritte entfernt. Auch wie sie es schaffte, die Tür zu öffnen, blieb ein Rätsel. Einen Schlüssel jedenfalls fand man bei ihr nicht und die Tür war doch normalerweise abgeschlossen. Belinda Baumann jedenfalls war nach oben gegangen, so viel stand fest. Denn um sich aus dem kleinen Fenster unter dem Dach zu
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