Nibelungen 02 - Das Drachenlied
fragte sie leise.
»Gib mir den Schlüssel!«
»Aber er gehört nicht dir.«
»Ich brauche ihn.«
»Er gehört Klein-Ugo.«
Mütterchen zwang sich zur Ruhe, was nicht leicht war in Anbetracht des Umstands, daß Löwenzahn neben ihr wie ein zorniger Stier gegen die Stäbe rannte. Sie erkannte jetzt auch den Grund: Funkenflug war durch das Gitter hereingeweht und hatte im hinteren Teil des Verlieses das Stroh in Brand gesetzt. Ein kleines, aber rasch anwachsendes Feuer züngelte über den Boden.
»Marret, noch einmal: Gib mir den Schlüssel, oder wir werden bei lebendigem Leibe verbrennen.«
Marret schlug die Augen nieder. »Ugo hat mich auch manchmal verbrannt. Das war nicht schön.«
»Den Schlüssel!«
»Und wenn Ugo ihn wiederhaben will?«
Die Feuersbrunst wuchs beständig an, fraß sich jetzt schon aufs Gitter zu.
»Ugo will ihn nicht mehr haben. Er hat ihn dir geschenkt.«
»Wirklich?«
»Aber ja doch. Sieh nur, da läuft er fort.« Mütterchen deutete mit zitternder Hand auf den Jungen, der zwischen den brennenden Seilwinden einhertaumelte, umgeben vom Gewimmel der Sklaven und Krieger.
»Das stimmt«, stellte Marret fest.
»Und wenn der Schlüssel dir gehört, kannst du damit tun, was du willst.« Mütterchen spürte die Hitze in ihrem Nacken. Die Flammen kamen immer näher. Löwenzahn sprang um sie herum und schabte mit dem Fuß das glimmende Stroh beiseite. Ein aussichtsloses Unterfangen.
»Gehört mir«, wiederholte Marret nachdenklich.
»Du willst doch nicht, daß mein Freund und ich verbrennen, nicht wahr? Also gib mir den Schlüssel, damit wir hier raus können.«
Noch hatten die Krieger anderes zu tun, als ihre Gefangenen zu beachten, aber jeden Augenblick mochte einer von ihnen erkennen, daß am Gitter ein Fluchtversuch im Gange war. Derweil ertönte von oberhalb der Mauer, fast genau über dem Kerker, das Klirren von Schwertern, die heftig aufeinanderprallten. Über eine Holztreppe, zwanzig Schritte weiter rechts, rannten immer mehr Krieger zum Wehrgang empor. Auf den Stufen entstand ein regelrechtes Gedränge. Eine ganze Heerschar von Feinden mußte die Mauer über dem Verlies erstürmt haben.
Ein blechernes Prasseln ertönte, als ein toter Krieger unweit des Gitters zu Boden krachte. Er war mit gespaltenem Helm vom Wehrgang gefallen. Zwei weitere folgten. Einer verfehlte die am Boden kauernde Marret nur um Armeslänge. Sein Kopf war durch einen Schwertstreich fast von den Schultern getrennt und glotzte Mütterchen aus glänzenden Augen an.
Die vorderen Flammen waren jetzt nur noch eine Handbreit von Mütterchens und Löwenzahns Füßen entfernt. Marret starrte abwechselnd den Schlüssel, das Feuer und den umherspringenden Ugo an. Dann traf sie ihre Entscheidung.
»Hier!«
Mütterchen nahm ihr den Schlüssel mit zittrigen Fingern ab und steckte ihn ins Schloß. Augenblicke später ließ sich die Kette lösen. Das Gittertor schwang auf, und die beiden Gefangenen taumelten ins Freie.
Einige Atemzüge vergingen, in denen sie sich orientierten. Als Mütterchen sich umsah, erreichten die Flammen das Gitter. Spätestens jetzt mußten die Krieger auf sie aufmerksam werden.
»Los, wir müssen weg von hier!« rief Mütterchen dem Riesen zu. Löwenzahn packte die verwirrte Marret, klemmte sie sich unter den Arm und rannte los. Das Mädchen leistete keinen Widerstand, ließ alles willig mit sich geschehen.
»He, ihr!« brüllte ein Krieger und wandte sich ihnen zu. Über eine Entfernung von zehn Schritten kam er auf sie zu, in jeder Hand ein Kurzschwert.
Löwenzahn sah sich verzweifelt nach einer Waffe um. Das Schicksal meinte es gut mit ihm, denn im gleichen Moment stürzte ein weiterer Toter von den Zinnen herab, landete unweit der Gefährten am Boden. Löwenzahn setzte Marret ab, sprang vor und packte das Schwert des Leichnams. Mütterchen suchte ebenfalls nach einer Waffe, fand aber nur das Horn am Hals des Mannes. Sie ließ es hängen und kratzte statt dessen eine Handvoll Schmutz vom Boden. Während sich Löwenzahn dem Angreifer entgegenwarf, formte sie vier Kügelchen aus feuchtem Schmutz. Zwei steckte sie sich selbst in die Ohren, zwei preßte sie der willenlosen Marret in die Ohrmuscheln.
Mit heftigen Attacken trieb der zornige Koloß den Drachenkrieger zurück zur Mauer. Einen Augenblick später hieb er ihm die Klinge durchs Schlüsselbein hinab in die Brust. Schweigend brach der Krieger zusammen und starb.
Die Schlacht im Hof zwischen Sklaven und Kriegern war in ihrem
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