Nibelungen 02 - Das Drachenlied
begegnete dem Ritter mit Kühnheit. »Ihr wollt zum Drachen, nicht wahr?«
»Dann ist er auch Euer Ziel?«
»Wir könnten zusammengehen. Ihr selbst und mein Freund gebt ein gutes Kampfgespann ab.«
»Ihr würdet mich nur aufhalten.«
»Vergeßt nicht, bisher habt Ihr uns aufgehalten.«
Wieder lächelte er, und an den frischen Falten, die es auf seinem Gesicht erzeugte, erkannte Mütterchen, daß er dergleichen nicht oft tat. Es wirkte unbeholfen, als hätte er es nie gelernt.
»Nennt mir Euren Namen, Weggefährtin«, sagte er zu ihrem Erstaunen.
»Früher hieß man mich Mütterchen Mitternacht.«
»Die Grausame persönlich?«
»Eben jene.«
»Und Euer Gefährte?«
»Löwenzahn«, sagte Mütterchen.
Der Ritter sah verwundert von einem zum anderen, enthielt sich aber einer Bemerkung.
»Wie ist Euer Name?« fragte die Räuberin und konzentrierte ihren Blick auf das Auge des Mannes. »Mit Verlaub, mein Freund hier hielt Euch schon für den Rabengott selbst.«
Löwenzahn fuhr voller Empörung auf. »Das warst du, nicht ich!«
Mütterchen winkte ab. »Papperlapapp!«
Der Ritter aber versank in tiefem Schweigen. Schließlich sagte er gedankenverloren: »Tatsächlich hat man mich einst so genannt. Der Rabengott… Aber das ist lange her.«
»Und wie heißt Ihr wirklich?«
»Heute nennt man mich bei meinem wahren Namen«, sagte er und fügte leiser hinzu: »Ich bin Hagen von Tronje.«
Seltsam, dachte Mütterchen, es klingt beinah, als schäme er sich dafür.
Mit einem Laut wie ein Schrei fuhr der Wind durch die Wälder. Alberich fröstelte. Nicht einmal die Decke, die ihn und das Moosfräulein vor den Blicken des Geweihmannes schützte, vermochte die Kälte aus seinen Gliedern zu vertreiben. Und vielleicht war es ja gar nicht die Kälte des Windes, die ihn schaudern ließ. Alberich gestand sich ein, daß er sich selten zuvor so unwohl gefühlt hatte. Die Ungewißheit dessen, was sie noch erwarten mochte, widersprach seinem geruhsamen Leben im Hohlen Berg und brachte ihn ganz durcheinander. Beinahe wünschte er sich, der Schmerz des Alleinseins möge zurückkehren und ihn vor allen weiteren Abenteuern behüten.
Und noch etwas beunruhigte ihn. Bei seiner ersten Begegnung mit Geist war ihm klargeworden, daß sie beide die letzten ihrer Art waren, wenigstens in dieser Gegend, und er hatte die Verbundenheit gefühlt, die daraus zwischen ihnen entstand. Je länger er aber nun auf den Rücken des Geweihmannes blickte, auf die verschlungenen Hornstränge, die gleichsam mit seinem Körper verwachsen schienen, desto deutlicher empfand er diese Verbundenheit auch mit ihm. Er war ihr Feind, ohne Zweifel, ein grausamer noch dazu, aber gleichzeitig war da eine spürbare Verbindung zwischen ihnen, als sei mit dem Geweihmann ein drittes Wesen mit dem magischen Blut der Alten an ihre Seite gestoßen.
Das vierte war der Drache.
Alberich erschrak. Wenn er selbst die Nähe eines Zauberwesens spürte, mußte umgekehrt dann nicht auch der Geweihmann die Anwesenheit von Geist und Alberich fühlen? Wußte er längst, daß sie auf dem Wagen lagen? Wollte er, daß sie mit zum Kadaver des Drachen kamen?
Alberich hatte die schreckliche Vorahnung, daß ihnen etwas Grauenvolles bevorstand, wenn sie nicht sofort die Flucht ergriffen. Wir müssen hier weg! durchfuhr es ihn. Abspringen und fortlaufen.
Lautes Hufgetrampel riß ihn aus seinen Gedanken. Ein berittener Drachenkrieger kam ihnen auf dem Weg entgegengesprengt. Erstaunt riß er sein Pferd herum, als er seines Meisters angesichtig wurde. Tänzelnd kam das Tier zum Stehen.
»Herr!« rief der Krieger aus. »Ich wurde gesandt, Euch die Botschaft zu überbringen. Die Sklaven sind durchgestoßen! Das Blut des Drachen fließt!«
Von ihrem Versteck aus konnte Alberich nicht in das Gesicht des Geweihmannes blicken, aber ihm war fast, als könne er den Triumph ihres Feindes am eigenen Leibe spüren.
Der Krieger bot seinem Herrn das Pferd an, doch der Geweihmann lehnte ab. Statt dessen befahl er dem Reiter, den Wagen zu eskortieren. Alberich war jetzt sicher, daß sie entdeckt waren. Der Geweihmann wollte sichergehen, daß sie ihm nicht mehr entkommen konnten.
Er blickte zu Geist hinüber. Sie starrte furchtsam zurück, als wäre sie zum gleichen Schluß gekommen. Keiner von beiden wagte zu flüstern, und so war es unmöglich, eine gemeinsame Flucht zu beschließen. Alberich erwog für einen Moment, einfach die Decke zurückzuschlagen und vom Wagen zu springen; Geist
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