Nibelungen 05 - Das Runenschwert
schaute ihm nach, bis er mit der Nacht verschmolz.
Otter war ein seltsamer Mensch. Einer von Reinholds Knechten hatte ihn als kleines Kind am Rhein gefunden. Niemand vermochte zu sagen, woher er kam. Auch Otter selbst nicht. Anfangs hatte er nur sinnloses Zeug gestammelt und nur sehr langsam sprechen gelernt. Weil man ihn am Fluß gefunden hatte und weil das Schwimmen seine Lieblingsbeschäftigung war, hatte man ihn Otter gerufen.
Hinter vorgehaltener Hand munkelte man über das Findelkind mit der eigenartig dunklen Haut. Viele mieden ihn aus Furcht, wie sie alles Fremde fürchteten, für Teufelswerk hielten oder für Geisterspuk. Otter schien sich nichts daraus zu machen. Jedenfalls zeigte er es nicht. Im Gegenteil, er gab sich stets gut gelaunt und war allen, die es wollten, ein guter Freund.
Ohne ihn wäre es für Siegfried oft sehr einsam auf der Schwertburg gewesen. Trotz des väterlichen Zuchtmeisters Reinhold und trotz Wieland, mit dem der junge Xantener ebenfalls Freundschaft geschlossen hatte. Der kräftige Sohn eines dänischen Fürsten war ein treuer Kamerad, aber mit Otter war es etwas anderes. Der dunkelhäutige Findling war fast wie ein Bruder für Siegfried. Vielleicht lag es daran, daß keiner von ihnen einen Vater hatte.
Plötzlich vernahm Siegfried Schritte hinter sich. War Otter zurückgekehrt?
Er drehte den Kopf.
Das war nicht Otter. Viel zu groß und kräftig wirkte der Schemen, der von der Burg zu kommen schien.
Ein Freund also? Oder die geschickte Täuschung eines Mahrs, eines Nachtdämons?
Wieder fuhr Siegfrieds Hand zum Dolch…
»Ich hörte schon von Otter, daß deine Klinge heute locker sitzt, Siegfried«, sagte Reinhold mit vertrauter, volltönender Stimme. »Der arme Junge glaubt, du trachtest ihm nach dem Leben.« Reinhold trat neben den Fels und blickte Siegfried in die Augen. »Was ist los mit dir? Warum siehst du Gespenster? Es war ein anstrengender Tag. Weshalb schläfst du nicht längst?«
»Es war vor allem ein enttäuschender Tag«, seufzte Siegfried.
»Du hast Graufell bekommen. Gefällt er dir nicht?«
»Doch«, erwiderte Siegfried schnell. »Ich glaube, ein besseres Pferd könnte ich mir nicht wünschen. Leider habe ich kein Schwert, das auch nur halb so gut ist.«
»Ja, ich verstehe«, brummte der Schmied und hockte sich neben ihn. »Du brütest immer noch über Siegmunds Runenschwert.«
»Ist das nicht verständlich? Es ist das Erbe meines Vaters, den ich verloren habe!«
»Ich verstehe deinen Schmerz und deine Trauer. Aber vergiß nicht, wir alle trauern um König Siegmund.«
Mit Reinholds faltigem, rußgebräuntem Gesicht ging eine Veränderung vor. Es wurde hart, starr. Mit verlorenem Blick sah der Waffenschmied hinaus auf den Rhein, als suche er dort etwas. Vielleicht seine Frau und den Sohn, dessen Heranwachsen er niemals erleben durfte.
Siegfried kannte die Geschichte, die sich zur Zeit seiner Geburt ereignet hatte. Damals kam auch Reinholds Gemahlin nieder und schenkte ihm den lang ersehnten Sohn. Doch kurz nach der Taufe durch Bischof Severin erkrankte das Neugeborene und starb. Die Mutter verfiel in tiefe Traurigkeit und folgte dem Kind nach wenigen Wochen. Fortan war Reinhold ohne Gefährtin. Seine einziger Umgang waren die Schmiedeburschen und die Pferde, die er züchtete.
»In wenigen Tagen wirst du ein Mann sein, also will ich dich auch wie einen behandeln«, sagte der Schmied endlich. »Du selbst sollst über dein Schicksal entscheiden.« Er zog einen Lederbeutel unter dem Wams hervor und öffnete ihn. »Hierin liegt dein Schicksal, Siegfried. Wähle es selbst!«
»Mein Schicksal?« Verwirrt starrte Siegfried in den Beutel und erkannte rotbemalte Holzstückchen verschiedenster Form. Dann begriff er: »Runen!«
»Ja, es sind Schicksalsrunen, getränkt mit dem Blut Wodan geweihter Rösser. In alten Zeiten befragte man so die Götter.«
»Aber das ist heidnischer Zauber!«
»Das kann man auch vom Runenschwert behaupten«, erwiderte Reinhold mit leisem Lachen. »Aber ist es nicht gleich, ob die Kraft von den Runen kommt oder vom bloßen Glauben an sie?«
»Ich weiß nicht«, gestand Siegfried, der sich darüber noch nie Gedanken gemacht hatte. »Wie kommt es, daß Ihr Euch so gut mit den Runen auskennt?«
»Weil in alten Zeiten ein Schmied zugleich ein Runenkundiger war. Die Runenzier der Waffen wurde von jedem hervorragenden Recken verlangt. Allerdings habe ich diesen Beutel seit vielen Jahren nicht mehr zur Hand genommen.«
»Warum
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