Jessica
1 - 1880
Hinter ihr weinte Alma.
Dicke, glitzernde Schneeflocken schwebten mit der graziösen Anmut von Tänzerinnen an den kleinen Fenstern in der rückwärtigen Wand des Wohnzimmers vorüber, aber J essica Barnes hatte keinen Blick für ihre zerbrechliche Schönheit. Ihre Aufmerksamkeit, ja ihr ganzes Sein konzentrierte sich auf das frische Grab auf dem Friedhof gegenüber. Auf den Ort, wo ihr Bruder Michael begraben lag, der ihr alle dreiundzwanzig Jahre ihres Lebens ein echter und ergebener Freund gewesen war. Er war vor einer Woche, also wenige Tage vor ihrer Ankunft in dieser abgelegenen Stadt Springwater in Montana gestorben.
Wie er in seinen Briefen von diesem Ort geschwärmt hatte: Die Aussicht sei atemberaubend, hatte er geschrieben, und die Einwohner hätten ihn und Victoria wie Familienmitglieder aufgenommen. Der Himmel sei so weit, dass man auf dem Rücken im Gras liegen, nach oben schauen und sich in all der Bläue verlieren könne. Nicht dass er d ie Zeit für so etwas hätte, hatte er sich beeilt hinzuzu fü gen, denn er war ständig mit der nächsten Ausgabe der Zeitung beschäftigt. Das war seine Art gewesen.
Jessica unterdrückte ein bitteres Aufschluchzen. Sie war sich sicher, dass sie ihn getötet hatten: die Arbeit und die Stadt. Er war immer von schwacher Gesundheit gewesen, und wenn man sie fragte, war das ganze Unternehmen - d ie alte Druckerpresse zu kaufen durch die Prärie zu reisen, Wüsten und Gebirge in einem Ochsenwagen zu durchqueren - von Anfang an töricht gewesen. Er hätte in Missouri bleiben und seinen Stolz vergessen sollen, um dort bei der Zeitung ihres Onkels mitzuarbeiten, wozu er vorgesehen war, statt hierher zu reisen und sich damit zu übernehmen. Er hatte das wenige, das er besaß, verkauft und dem respektablen Familienunte rn ehmen den Rücken gekehrt. Er hatte aus zweiter Hand dieses riesige, schmierige Ungetüm gekauft, das er Druckerpresse nannte, hatte es auseinander gebaut und aufgeladen, um dann - zusammen mit seiner verängstigten Braut, ein paar Säcken Trockenbohnen und einer Auswahl an Lebensmitteln - nach Westen zu ziehen. Jessica erinnerte sich in allen Einzelheiten an den Tag seiner Abreise, und diese Erinnerung schmerzte noch heute, obwohl seitdem sechs Jahre vergangen waren. Damals war sie siebzehn gewesen und zäh, und sie hatte Michael angefleht, sie auf die Reise in den Westen mitzunehmen.
Michael hatte freundlich abgelehnt und ihr erklärt, dass so eine Reise für ein junges Mädchen wie sie viel zu gefährlich sei - dabei war sie nur ein Jahr jünger gewesen als seine Braut Victoria -, und da war ihr kl ar geworden, dass sie ihm im Wege war, eine unerwünschte Bürde.
Also war sie zurückgeblieben und hatte mit dem vollen Einverständnis ihres Onkels eine Stelle als Gesellschafterin für eine alte, aber noch sehr rüstige Witwe angetreten, Mrs. Frederick Covington sen. Zwei Jahre lang hatten sie und Mrs. Covington Europa bereist, zwei Jahre, die Jessica sehr genossen und in denen sie viel von ihrer lebenserfahrenen Gefährtin gelernt hatte.
Die gütige alte Dame war auf der Rückreise über den Atlantik im Schlaf gestorben und hatte Jessica insgeheim einen kleinen Geldbetrag und einige Schmuckstücke hinterlassen, die sie im Testament nicht erwähnt hatte. Damals war auch Jessicas Onkel gestorben, aber von ihm gab es keine Erbschaft - nur einen Stapel Forderungen von seinen ungeduldigen Gläubigem.
Jessica hatte alles verkauft - die Zeitung, das bescheidene Haus ihres Onkels und seine persönlichen Besitztümer, selbst die Uhr auf seinem Kaminsims —, um seine Schulden bezahlen zu können, und dann hatte sie darauf gewartet, dass Michael sie bitten würde zu kommen.
Er tat es nicht. Und so war das Angebot einer Stelle im Haushalt von Mrs. Covingtons einzigem Sohn, Frederick II., und seine Frau Sarah ein Geschenk des Himmels gewesen. Doch der Schein hatte getrogen; Frederick, der in seiner Ehe unglücklich war, hatte schon bald begonnen, Jessica nachzustellen.
Lange Zeit hatte Jessica es geschafft, nie mit ihm alleine zu sein. Dann hatte eines der Mädchen den Schmuck entdeckt, den Mrs. Covington Jessica auf dem Sterbebett gegeben hatte, und ihn Mr. Covington übergeben. Von da an hatte er ihr mit einem Skandal gedroht, wenn sie ihn nicht in ihr Bett lasse.
Jessica hatte sich bereits darauf eingestellt, Michael und Victoria anzuflehen, sie bei sich wohnen zu lassen, als gerade an dem Tag, an dem Fredericks Ultimatum verstrich, ein etwas
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