Nibelungengold 02 - Das Drachenlied
nicht, daß er die geheime Zunge der Wegelagerer beherrschte; wahrscheinlich war er selbst einst ein gewöhnlicher Räuber gewesen. Beinahe gegen ihren Willen erzeugte der Begriff, den sie so lange nicht mehr gehörte hatte, ein Gefühl von Wärme in ihr. Erinnerungen stiegen in ihr auf, an eine glorreiche, eine bessere Zeit.
»Wenn Ihr ein Kabber seid, warum verschüttet Ihr mich und werft mich in die Kitte?« fragte sie und appellierte an seine Räuberehre: Wenn Ihr ein Diebeskamerad seid, warum nehmt Ihr mich gefangen und werft mich ins Verlies? Sie empfand fast etwas wie Vergnügen daran. Plötzlich war alles wieder in ihr, die verschlüsselte Sprache von damals, ihre Kraft, die Freude am Leben. Vielleicht war der Geweihte kein so übler Kerl, wie es anfänglich scheinen mochte.
Er kam auf sie zu, bis sie einander fast berührten. Sein Blick bohrte sich in ihre Augen, brachte mit unsichtbaren Fühlern ganz bestimmte Saiten in ihrem Inneren zum Klingen. Sie spürte es und öffnete ihren Geist bereitwillig für sein Tasten. Wann hatte sie sich zum letzten Mal so wohl gefühlt?
»Alte Schicksel«, flüsterte er freundlich, »ich fühle, wie der Mohr Euch holt.« Altes Mädchen, ich fühle, daß Ihr Euch fürchtet. »Dabei war’s der Kaftling, der mein eigen gegampft, und nicht Ihr.« Dabei war’s das kleine Schwein, das mein Eigentum stahl, und nicht Ihr. »Wißt Ihr, wo der Schottenfeller sich verkabbert? Sagt’s und schrobbert frei davon.« Wißt Ihr, wo der Dieb sich versteckt? Sagt’s und zieht unbehelligt weiter.
Bilder flirrten durch Mütterchens Geist, von den Abenden im Kreise ihrer alten Kumpanen, alle längst tot, aber in ihrer Erinnerung lebendiger denn je. Sie sah ihre Triumphe, ihre Siege über Ritter und Krieger, sah reiche Händlerschweine im Pferdedung kriechen und sich selbst mit einem Jubellied auf den Lippen.
Weiter und weiter sprach der Geweihte auf sie ein, benutzte dabei die alte Sprache der Räuberhöhlen und Verliese, ein Kauderwelsch aus deutschen und hebräischen Worten, wie es sich einst unter ihresgleichen eingebürgert hatte.
Und obgleich sie nicht wußte, wohin Alberich geflohen war, so war sie doch drauf und dran, dem Geweihten alles über den Zwerg zu erzählen, über den Hohlen Berg und den schutzlosen Hort, über ihre Reise zum Drachen und ihr Ziel, in seinem Blut zu baden.
Schon öffneten sich ihre Lippen, dem neuen Freund den alten zu verraten, als plötzlich eine Stimme schrie: »Mütterchen, komm zu dir!«
Es war Löwenzahns Stimme, und sogleich brachte ihn ein Hagel aus Fußtritten zum Schweigen. Doch die wenigen Worte reichten aus, um Mütterchen zurück in die Wirklichkeit zu reißen. Erschrocken blickte sie den Geweihten an, sah, wie sein triumphierendes Lächeln in Zorn umschlug. Blitzschnell wich sie vor ihm zurück, drei, vier Schritte weit, bis ihr Rücken gegen die Kerkerwand stieß. Das war nicht ihr eigener Wille gewesen, der sich da in ihr breitgemacht hatte.
Es sind seine Augen! durchzuckte es sie. Seine verfluchten dunklen Augen!
Einen Moment lang sah es aus, als würde der Geweihte Befehl geben, sie zu töten. Lodernde Wut tobte über seine Züge, ein so verzehrender, mörderischer Haß, daß Mütterchen fast glaubte, ihn körperlich zu spüren. Doch dann, von einem Herzschlag zum nächsten, erlosch sein Zorn, und an seine Stelle trat der Anschein von Gleichgültigkeit.
»Gut«, sagte er sachlich. »Ihr wollt es so. Ich gebe Euch bis zum Morgengrauen. Solltet Ihr mir dann nicht sagen, was Ihr über den Zwerg wißt, wird sich mein Folterknecht Eurer annehmen. Und ich werde ihm mit größtem Vergnügen zur Seite stehen.«
Mütterchen starrte ihn in plötzlichem Begreifen an. »Es ist gar nicht das Horn, nicht wahr?«
»Wie meint Ihr das?« fragte er, obgleich er die Antwort doch kannte.
»Es geht Euch um den Zwerg, nicht um das Horn, das er trägt. Was wollt Ihr von ihm? Was macht ihn so wertvoll für Euch?«
Der Geweihte verzog die Mundwinkel zu einem sperrigen Lächeln, dann drehte er sich auf der Stelle um und verließ den Kerker. Seine vier Krieger folgten ihm und schlangen die Kette um das Gitter. Ein Vorhängeschloß, so groß wie Löwenzahns Schädel, schnappte ein.
Mütterchen sprang vor und krallte die knochigen Finger um die Eisenstäbe.
»Ihr werdet ihn niemals fangen!« schrie sie ihren Feinden nach. »Hört Ihr? Niemals!«
Aber das war Wunschdenken, und sie wußte es genau.
Mütterchen kümmerte sich um den angeschlagenen
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