Nibelungengold 02 - Das Drachenlied
Verwandtschaft zu akzeptieren. Doch als seine Hände fester zudrückten und sie mit Gewalt vom Boden rissen, da verflüchtigten sich solche Gedanken. Was blieb, waren Furcht und tiefempfundene Abscheu.
Sie versuchte, ihn zu treten und mit den Zähnen nach ihm zu schnappen, doch der Geweihte lachte nur leise über ihre vergebliche Gegenwehr. Wie ein unwilliges Stück Vieh zerrte er sie zur offenen Flanke des Drachen, direkt vor den Spalt zwischen den Rippen. Der Tunnel durch die Eingeweide der Bestie war pechschwarz.
»Du wirst etwas für mich tun«, zischte der Geweihte ihr ins Ohr. »Ich will, daß du –«
Geists Aufschrei unterbrach ihn. Gellend rief sie nach Löwenzahn und Mütterchen, bis sich die Hand des Geweihten auf ihren Mund legte und sie zum Schweigen brachte.
»Dein Freund, der Zwerg, hat sich verkrochen. Bedank dich bei ihm, daß es nun dich trifft, mein Kind.« Sein starrer Blick senkte sich böse in das unschuldige Blau ihrer Augen. »Du wirst mir gehorchen! Deine Gefährten werden dir nicht zu Hilfe kommen. Du bist kein Mensch wie sie, du bedeutest ihnen nicht mehr als der Baum, den sie fällen, damit es warm wird in ihren Stuben. Begreif das endlich! Wir sind anders als sie, vollkommen anders.«
Es gelang Geist, ihre Zähne in seine Finger zu schlagen. Ruckartig zog er seine Hand von ihrem Mund. »Irgendwann werde ich ein Mensch sein«, spie sie ihm verächtlich entgegen. »Ich bin jetzt schon menschlicher als du.«
Er lächelte. »In deinen Träumen und Hoffnungen. Gleich wird sich erweisen, ob wirklich etwas Menschliches in dir steckt. Ich wollte es selbst wagen, aber besser ist, du gehst voraus.«
»Was hast du vor?« Sie überlegte, ob sie abermals um Hilfe rufen sollte, als sie plötzlich die Melodie hörte. Sie hatte sie schon vorher vernommen, auf ihrem Weg hierher, einmal sogar daheim, in den Wäldern rund um Obbos Wirtshaus. Ihr war nie der Gedanke gekommen, daß die Folge klingender Töne eine Lockruf, ein Wegweiser sein könnte.
»Jetzt hörst du es wieder, nicht wahr?« wisperte der Geweihte ihr ins Ohr. »Ich kann es auch hören, leiser als du, aber ich höre es. Willst du ihm nicht helfen? Spürst du nicht auch das Verlangen, die Qualen dieser Kreatur zu beenden?«
»Welcher Kreatur?« stammelte sie verwirrt, obgleich sie es ahnte.
Der Geweihte deutete auf den Kadaver. »Sieh ihn dir an! Schau, wie er daliegt, verstümmelt, entstellt.«
»Deine Männer waren es, die ihm die Zähne aus den Kiefern rissen, und die ihm… das hier antaten.« Sie zeigte auf das klaffende Loch in der Flanke.
»In seinem Auftrag«, widersprach der Geweihte, »zu seinem Besten.«
»Du willst ihn zurück ins Leben rufen?«
»Ihn befreien aus den Ketten des Todes, ihm das Leben geben, das sein war, länger als jedem anderen Wesen. Er ist so alt wie die Berge selbst, älter als der Fluß und die Reiche an seinen Ufern. Und er ist der letzte seiner Art. Er hat es nicht verdient zu sterben. Seine Stärke, seine Klugheit, die List, die er in sich trägt – kein Wesen kommt ihm darin gleich. Er ist der Drache, von dem wir alle irgendwann gehört haben, in Legenden und den Geschichten der Alten. Und jetzt liegt er vor dir, du hörst seine Hilfeschreie, und du willst dich ihm verweigern? Ist das wirklich dein Ernst?«
Sie zitterte am ganzen Leib, hatte keine Gewalt mehr über ihre Glieder. »Warum tust du es nicht selbst, so wie du es vorgehabt hast?«
»Weil mir an seiner Dankbarkeit liegt. Was nutzt sie mir, wenn ich tot bin? Wird er den Zauber in mir erkennen, wenn ich seinen Leib betrete? Oder wird er mich verschlingen, so wie jene, die diesen Tunnel gruben? Niemand weiß es. Wir allein, die wir das magische Blut der Alten in uns tragen – der Zwerg und du und ich –, vermögen seinen Ruf zu hören. Er schadet nicht jenen, die von seiner Art sind, so wie ihr beiden. Du wirst in ihn eindringen und seinem Herzen das eigene Blut darbringen, während ich das Drachenlied spiele, als Antwort auf seine Klagegesänge. Und der Lindwurm wird zu neuem Leben erwachen, geschwächt zwar, aber mächtiger als jede Kreatur diesseits und jenseits des Stroms.« Ein schwarzes Lodern zuckte in seinen Augen. »Er wird wissen, wem er Dankbarkeit und Demut schuldet.«
Geist fragte sich, was aus Mütterchen, Löwenzahn und dem Ritter geworden war. Sie hatten ihre Hilfeschreie nicht gehört. Oder wollten sie sie nicht hören? Das Klirren aufeinanderschmetternder Klingen dröhnte über den Kadaver hinweg an ihr Ohr.
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