Nibelungenmord
Bilder in die Hand und gab sich selbst die Stichwörter.
»Sehen Sie, unsere Wellness-Oase.« Knallblaues Wasser, fröhliche Seniorengesichter, Palmen im Hintergrund, die extra für dieses Bild in großen Kübeln ins Schwimmbad gerollt worden waren.
»Unsere Zimmer.« Kirschholzmöbel, Blumensträuße auf dem Tisch. Hoffentlich traf sie damit den Geschmack von Edith Herzberger, es war manchmal schwierig, das richtige Bild auszuwählen. Manche Leute bevorzugten Eichenfurnier, andere dagegen helle, moderne Möbel. Selbstverständlich durften die Bewohner ihre eigenen Sachen mitbringen, aber in dieser sensiblen Phase der Anwerbung ging es darum, den potenziellen Kunden einen spontanen Anreiz zu vermitteln, den optimalen Eindruck, ein »Hier-will-ich-Leben«.
Janina Scholz war gut in ihrem Job. Sie wurde auf die schwierigen Fälle angesetzt. Bei vielversprechenden Kandidaten, die sich hartnäckig weigerten, ihr Zuhause zu verlassen, und deren Angehörige einen Batzen Geld auf den Tisch legten, damit jemand alle Register zog. Na ja, fast alle. Wobei sie vorerst ja noch beim angenehmen Teil war. Natürlich gelang es nicht immer, den Auftrag auszuführen. Aber der Versuch lohnte sich. Zusätzlich zu ihrem Stundenhonorar winkte bei erfolgreicher Vermittlung eine fette Prämie, da sie, anders als sie behauptete, an keine Institution gebunden war. Scherzhaft nannten ihre Freunde sie eine Kopfgeldjägerin der Altenheime. Was soll’s?, dachte Janina. Das ist freie Marktwirtschaft. Unglaublich, worauf sich Angehörige einließen, um ihre alten Verwandten loszuwerden.
Hier würde es jedenfalls schwierig werden. Man sah, dass die alte Dame sich wohl fühlte. Das Wohnzimmer wirkte gemütlich, zahlreiche golden gerahmte Bilder nahmen die Fläche über dem Esstisch ein, dunkle Regale zogen sich bis über die Tür, vollgestopft mit Büchern.
Stimmt, überlegte Janina, Edith Herzberger war Buchhändlerin gewesen, das stand in den Unterlagen. Und offenbar war sie nicht so technikfeindlich wie viele Menschen ihres Alters, denn an einer Wand hing ein moderner Flachbildschirm.
Janina stockte. Ein Flachbildschirm? Ihr Blick wanderte durch den Raum, und plötzlich sah sie einige Details, die ihr längst hätten auffallen müssen. Ein zusammengeklappter Laptop auf dem Esstisch. Eine Lederjacke, die über einem Stuhl hing.
Hier wohnte noch jemand. Ein Mann. Vermutlich kein Mann in Edith Herzbergers Alter, denn die besaßen meist weder Laptop noch Lederjacke.
»Dürfte ich jetzt erfahren, was Sie von mir wissen möchten?«, fragte die alte Dame.
Janina setzte routiniert ihr strahlendstes Gesicht auf und trank, um ihre Verwirrung zu überspielen, von dem Tee. Unauffällig musterte sie ihr Gegenüber. Schneeweiße Haare, porzellanblaue Augen, rosige Wangen. Und ein süßes Lächeln, das sie nun nicht mehr täuschen konnte. Diese Dame hatte es faustdick hinter den Ohren. Ließ ihre Tochter nicht in die Wohnung und hielt stattdessen einen Mann aus. Wie alt mochte er sein? Was lief wohl zwischen den beiden? Und vor allem: War sie verpflichtet, ihre Kundin darüber zu informieren?
Während sie nachdachte, flossen die Worte wie von selbst über ihre sorgfältig geschminkten Lippen. »Natürlich möchten wir vom Gerlinde-Bauer-Haus Sie gerne für uns gewinnen, liebe Frau Herzberger. Und deswegen habe ich Ihnen eine ganz besondere Überraschung mitgebracht.« Sie zog den Umschlag mit der Satinschleife aus ihrer Handtasche. »Unser Geschenk für Sie: ein Gutschein für ein Gratis-Wochenende in unserem Haus! Lassen Sie sich doch einmal so richtig verwöhnen!« Die schon so oft gesprochenen Sätze halfen ihr, die Fassung wiederzufinden. Auch wenn es ihr schwerfiel. Ein Mann! Und diese alte Frau! Das war ja pervers!
Die alte Dame indes verzog keine Miene. »Ich gehe nicht in ein Altenheim«, sagte sie.
»Aber Frau Herzberger! So können Sie unser schönes Haus wirklich nicht bezeichnen.« Es gehörte zu den Kunstfertigkeiten der Gesprächsführung, das Wort »Altenheim« zu vermeiden, und diese Strategie war Janina im Laufe der Jahre so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie automatisch zusammenzuckte, wenn jemand das Wort in den Mund nahm.
Es war, als hätte sie gar nichts gesagt. Die andere ignorierte ihren Einwand einfach.
»Hat meine Tochter Sie geschickt?«
Alarmglocken schrillten in Janinas Kopf. Niemals den Auftraggeber preisgeben!, lautete die oberste Parole. Wir treten auf als freundliche Mitmenschen der Gemeinde, am besten
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