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Nibelungenmord

Nibelungenmord

Titel: Nibelungenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merchant
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man sprechen konnte.
    »Was haben wir denn?«, fragte er.
    »Eine weibliche Leiche«, klärte Elena ihn auf, während sie mit langen Schritten neben ihm über den weichen Waldweg schritt. Eigentlich war es eher eine Schlucht als ein Tal. Steil aufragende Hänge, die immer höher in den Himmel zu wachsen schienen, je tiefer die beiden Polizisten vordrangen. Die Bäume hatten ihr Laub längst abgegeben, es lag auf dem Boden wie ein dicker rotbrauner Teppich, aus dem hin und wieder Efeu oder ein paar einsame Farnwedel herausragten.
    »Sie lag in einer der kleinen Höhlen. So wie es aussieht, ist sie an Ort und Stelle mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen worden, vielleicht mit einem der Steinbrocken.«
    »Eine Touristin?«
    »Sie sieht nicht wie eine typische Touristin aus.«
    »Wie sieht denn eine typische Touristin aus?«
    »Holländisch, du weißt schon. Mit Hut, festen Schuhen und Steppweste.« Sie schwiegen beide. In den Sommermonaten und im Frühherbst war Königswinter regelrecht besetzt von Touristen. Nicht nur aus Holland kamen sie, um mit sommerlichen Strohhüten und zahlreichen Plastiktüten in der Hand die Hauptstraße auf und ab zu laufen, in einem der zahlreichen Souvenirshops billige Mitbringsel zu erstehen oder aber den Weg zum Drachenfels einzuschlagen, wo sie sich dann entweder mit der ächzenden Zahnradbahn oder von Eseln hinauf zur Ruine schaffen ließen. Meist waren es Gruppen, bevorzugt Rentner, deren laute, fröhliche Zurufe durch die Straßen schallten und die Anwohner seufzen und das Ende der Saison herbeisehnen ließen.
    Jetzt war Spätherbst. Darum war es unwahrscheinlich, dass eine Touristin sich ins Tal verirrt hatte. Das Nachtigallental war vor allem bei Läufern und Hundebesitzern beliebt, und natürlich bei den Kindern, für die die verträumte Schlucht ein Paradies war mit ihren Kletterbäumen und dem mehrfach gestauten Bach. Und den Höhlen.
    Er erinnerte sich noch gut an die Höhlen, auch wenn es lange her war. »Wer hat sie gefunden?«
    »Jimmi.«
    »Jimmi. Und weiter?«
    »Nichts weiter. Jimmi ist ein Labrador. Sein Herrchen ist sicher, dass der Hund nicht an der Leiche dran war. Wuttke ist mit ihm ins Präsidium gefahren, weil ihm so kalt war.«
    »Wem, Hund oder Herrchen?«
    Offenbar hatte Elena das Frage-und-Antwort-Spiel satt, denn sie blieb stehen, bohrte die Fäuste in die Taschen ihres braunen Filzmantels und sah Jan forschend an. »Warum kommst du eigentlich jetzt erst?«
    »Ich hatte noch was zu erledigen.«
    »Aha. Na, dann kann ich ja froh sein, dass du damit fertig bist.«
    »Kannst du.«
    »Gut. Eigentlich ist es richtig hübsch hier, oder?«
    »Geht so.« Jan legte den Kopf in den Nacken. Im Sommer mochte es idyllisch sein, wenn das Licht durch die Buchenblätter fiel, aber jetzt war es bedrohlich und kalt. Hübsch war auf jeden Fall das falsche Wort. Schön war es vielleicht. Mystisch. Wild.
    »Ist das da unsere Höhle?« Auf der anderen Seite des Bachs klaffte ein Loch in der Felswand. Eine knorrige Wurzel verbarg es, die so dick war wie ein Baumstamm.
    »Nein, wir müssen noch ein Stück höher, bis zum Ostermann-Denkmal. In dieser hier haben die Kollegen immerhin eine Windel gefunden, die jemand einfach reingeworfen hat. Unfassbar, dass die Leute so ein schönes Tal verschmutzen.« Ihre Bemerkung umfasste auch die Leiche, die jemand hier hatte liegen lassen und die jetzt den Frieden dieses verzauberten Ortes störte.
    Schon von weitem signalisierte das rot-weiße, flatternde Absperrband den Tatort. Mit wenigen Schritten kletterte Jan zum Eingang der Höhle. Sie war grell ausgeleuchtet vom Schein der Baulampen, die die Leute von der Spurensicherung aufgestellt hatten. Jan zögerte unwillkürlich, dann trat er näher. Das musste er. Das war sein Job.
    Die Frau lag in einer Blutlache, das Gesicht nach unten. Verklebtes Haar hing ihr wirr um den Kopf, das in gewaschenem Zustand vermutlich blond war.
    Er war froh, dass er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Wenigstens diese Leiche würde keine Gelegenheit bekommen, unerwünschte Bilder heraufzubeschwören. Er starrte auf den zertrümmerten Hinterkopf und war erleichtert, dass nichts ihn daran hindern würde, heute seine Arbeit zu tun. Ein befreiender Gedanke.
    »Sind die Kollegen fertig?«, vergewisserte er sich, ehe er Handschuhe überstreifte, nach dem Arm der Toten griff und den Ärmel hochschob. Die Totenflecken ließen sich wegdrücken, und es gab noch keine Anzeichen von Starre. Die Kälte mochte dazu beigetragen

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