Niceville
Irgendwas ist das drinnen. Und wir glauben –
oder vielleicht sollte ich sagen: wir hoffen –, dass es Rainey ist.«
Sie hörten ein gedämpftes Rumpeln, ein dumpfes Poltern, und dann
redeten alle gleichzeitig, laut und schnell.
Nick und Mavis eilten hinzu, als Marty Coors vortrat und mit der
Taschenlampe in das Loch leuchtete, das die Feuerwehrmänner gemacht hatten. Das
verängstigte Gesicht eines Jungen sah zu ihnen auf, große braune Augen, blondes
Haar, Tränenspuren auf den schmutzigen Wangen, der Mund groß und weit
aufgerissen, als der Junge tief Luft holte für den Schrei, den er im nächsten
Augenblick ausstieß. Er gellte über die Gräber, und aus einem Lindenhain stob
ein Schwarm Krähen auf.
Es war Rainey Teague, und er lebte.
Als sie ihn herauszogen, trug er noch seine Schuluniform. Sie
stellten fest, dass er in einer langen Holzkiste gelegen hatte, in einem Sarg,
und dass der Sarg nicht leer war.
Rainey Teague hatte in den dürren, mumifizierten Armen eines
Leichnams gelegen, vermutlich dem von Ethan Ruelle. Man hatte keine Ahnung, wie
dies vor sich gegangen war. Wie, von wem und warum war die Gruft geöffnet
worden, ohne dass irgendwelche Spuren geblieben waren? Aber Rainey Teague
lebte. Man brachte ihn auf die Intensivstation des Lady Grace Hospital, wo er
im Verlauf der nächsten fünf Stunden in ein Koma fiel.
Auch drei Tage später lag er noch im Koma, als sein Vater Miles ihn
zum wiederholten Male besuchte. Er war eingerahmt von den üblichen
medizinischen Apparaten, von Tropfinfusionen, Kabeln, Kathetern und piependen
Monitoren.
Die Ärzte sagten Miles, einem untersetzten, irischstämmigen Mann
Anfang fünfzig, mit dessen gutaussehendem Gesicht es rapide bergab ging, dieser
Zustand sei nach einem sehr heftigen seelischen Trauma nichts Ungewöhnliches.
Dann zogen sie sich zurück und ließen ihn mit seinem Sohn allein.
Miles Teague blieb zwei Stunden. Er betrachtete seinen Sohn und sah
ihn ein- und ausatmen. Schließlich beugte er sich hinunter und küsste ihn auf
die Stirn. Dann erhob er sich, ging zum Parkplatz, setzte sich in seinen großen
schwarzen Mercedes und fuhr nach Hause, wo man ihn am nächsten Morgen fand. Er
lag, in den Kleidern, die er am Tag zuvor getragen hatte, in dem marmornen
Pavillon am Ende des Gartens, neben sich seine handgemachte Purdy-Flinte, und
hatte sich den Kopf von den Schultern geschossen.
EIN JAHR SPÄTER
FREITAGNACHMITTAG
Cokers Nachmittag erfordert eine gewisse Konzentration
Das Funkgerät in Cokers Tasche summte wie ein Käfer in
einer Flasche. Coker war tief in sich selbst versunken und versuchte, vor
seinem inneren Auge zu sehen, wie sich die Dinge entwickeln würden. Früher war
ihm dieser alte Zen-Trick leichter gefallen, aber das war lange her. Er spähte
durch das hohe gelbe Gras auf die zweispurige Straße, die sich durch das
langgestreckte grüne Tal auf ihn zuwand. Das schwere Gewehr in seinen Händen fühlte
sich so fest und warm an wie der Hals eines Pferdes.
Das Funkgerät summte abermals.
Coker zog es hervor und drückte die Sprechtaste.
»Ja?«
»Wir sind bei Kilometer 47.«
Danzigers Stimme war flach und ruhig, aber angespannt. Coker hörte
die Sirenen im Hintergrund, das Zischen des Fahrtwinds, das Rumpeln der Räder
auf dem unebenen Asphalt.
»Wie läuft’s?«
Coker hörte einen kurzen, knappen Wortwechsel zwischen Danziger und
Merle Zane, dem Fahrer. Beide klangen ein bisschen aufgeregt, aber das war ja
nur natürlich.
»Bis jetzt sind’s nur vier«, sagte Danziger. »Sie sind hinter uns,
halten aber Abstand. Außerdem ist ein Hubschrauber vom Fernsehen dabei, aber
keiner von den Bullen, soweit wir das erkennen können. Wie sieht’s weiter vorn
aus?«
Coker sah auf den kleinen tragbaren Fernseher, der neben ihm auf dem
Boden stand. Auf dem winzigen Plasmabildschirm konnte er ein stumpfschwarzes,
wie ein Geschoss geformtes Fahrzeug erkennen. Seine Frontpartie ähnelte einer
geschlossenen Faust. Das war Merle Zanes Chrysler Magnum, der auf dem schwarzen
Band einer Landstraße über einen Flickenteppich aus Wiesen und Feldern
dahinjagte, dicht gefolgt von vier Wagen der State Police: zwei anthrazitgrau
und schwarz lackierten Crown Vics, einem weiteren schwarz-braunen Crown Vic eines
Deputy Sheriffs und einen dunkelblauen Wagen ohne Aufschrift, einem rasenden
Ziegelstein mit mächtigen Reifen und einem schwarzen Frontschutzbügel.
Die Bilder kamen aus dem Hubschrauber eines örtlichen
Fernsehsenders, der ebenfalls
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