Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
sichtbar von ihr ab. Ging sie allein nach Hause, oder hatte sie wenigstens eine Begleiterin? Ich weiß es nicht.
Mancher war schon so kleinmütig geworden, dass er das Ganze nur noch im Suff meinte ertragen zu können. Und Freunde, viele von uns sind daran krepiert. Das Land, aus dem wir kamen, hatte eine Suizidrate, die keinem verraten wurde. Sie war Staatsgeheimnis.
Wir erinnern uns auch an die Betriebe, jene unsägliche »Schule der sozialistischen Arbeit«. Wie oft war es wie Kabarett – aber keiner hat gelacht. Im Gegenteil. Wer lachte oder Laut gab, dem war man gram. Sollte doch keiner so tun, als könne er es nicht ertragen.
Zuchthaus, Rechtsbeugung, Stasi, Militarismus – von all dem soll hier nur mittelbar die Rede sein. Unser damaliger Alltag soll es sein, den wir jetzt vor unser geistiges Auge rufen. Möglicherweise werden wir gewahr, dass das Eingepasstsein in ein System auch etwas Beruhigendes hatte. Wenn ich sowieso nichts machen kann, bin ich weder verantwortlich noch fühle ich mich zu einer besonderen Anstrengung verpflichtet. War eigentlich eine komfortable Lebensvariante … Wie spät trauten wir uns, es zu merken? Ist das, was uns heute als Nostalgie betrübt, nicht auch Sehnsucht nach dem süßen Gift der Abhängigkeit?
Es ist unmöglich, den Grund für die grassierende Unzufriedenheit allein in der Mangelhaftigkeit der Verhältnisse nach 1989 zu sehen. Durch Umfragen wissen wir, dass unsere generell unzufriedenen Mehrheiten für sich persönlich durchaus Zufriedenheit bezeugen. Wie sollen wir begreifen, dass im reichsten, bestgeordneten Teil des postkommunistischen Europa – eben bei uns in den neuen Bundesländern – das allgemeine Befindlichkeitsbarometer ein markantes Tief aufweist, im völlig verarmten, problemüberhäuften Albanien dagegen ein Hoch? Könnte es sein, dass es viele von uns gar nicht reizt, sich als Subjekt des Gemeinwesens zu sehen?
Könnte es sein, dass wir – so wie wir früher die kleine Münze des uns Möglichen an Zivilcourage gering achteten – jetzt die Haltung des Bürgers als Citoyen, als Mitgestalter geringschätzen? Könnte es sein, dass die Klagelieder und Attacken von mehr oder weniger gewandelten SED -Kadern auf die Bundesrepublik deshalb von einigen so gern gehört werden, weil sie so wenig oder gar nichts von uns fordern?
Offenbar war unsere Sehnsucht nach Freiheit größer als unsere Bereitschaft, Verantwortung für unsere Freiheit zu übernehmen.
Freiheit, die wir jenseits der Mauer sahen, war Verheißung. Freiheit, die wir ohne Mauer erleben, ist für einige auch Enttäuschung und Belastung. Denn Freiheit macht auch Angst. Niemand entscheidet mehr für uns – außer er hat unser ausdrückliches Mandat: Der prinzipielle Unterschied zwischen dem vereinigten Deutschland und der untergegangenen DDR – Kohl kann prinzipiell nicht regieren wie Honecker.
Weil aber viele von uns ihr Leben lang nicht gelernt haben, in Freiheit selbstbestimmt zu handeln, verharren viele im Räsonnieren über das unbekannte Neue und scheuen Selbstreflexion und Trauer über das fremdbestimmte Alte. Sie schämen sich nicht, sich von jenen vertreten zu lassen, die selbst jahrzehntelang keine substantielle Kritik am alten System geübt haben und diese Kritik auch nicht bei anderen duldeten – und die heute völlig gewandelt auftreten.
Diejenigen, die früher am allgegenwärtigen DDR -Militarismus nichts auszusetzen hatten, überraschen uns heute durch ihren Pazifismus.
Diejenigen, die früher selbst Arbeiter in staatlichen Betrieben drastisch ausbeuten ließen und ihnen nicht einmal die betrieblichen Mitbestimmungsrechte und die gewerkschaftlichen Freiheiten gewährten, die die Arbeiterklasse in Jahrzehnten erkämpft hatte, attackieren die Arbeitgeber, die mit freien Gewerkschaften verhandeln, als Kapitalisten.
Diejenigen, die de facto die Gewaltenteilung bei uns abgeschafft hatten, die wichtige Rechtsinstanzen gar nicht kannten und immer wieder das Recht beugten, malen heute das Gespenst einer Bedrohung des Rechtsstaates an die Wand, obwohl die Rechte des Bürgers in unserem Lande in nie gekannter Weise garantiert sind.
So linienförmig, wie sie sich in die totalitäre Macht fügten, so fundamentalistisch kritisieren sie nun demokratische Macht: Opposition im Sonderangebot, die keine Repression und nicht einmal das Risiko zu fürchten hat, für ihre Worte beim Wort genommen zu werden.
Liebe Weimarer,
wir haben uns erinnert an das, worauf wir nicht stolz sein
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