Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
Einleitung
Das Leben, in das ich hineingeriet, war eines, das ich nicht schweigend ertragen wollte. Aber viele der Worte, die mir aus politischen Gründen wichtig waren in der Kindheit, der Jugendzeit und dann bis zu meinem fünfzigsten Lebensjahr, waren im Land der Diktatur nicht erwünscht. Ich habe es in diesem Land dennoch aushalten können, weil mir mein Beruf in der Kirche Möglichkeiten gab, Meinungen und Worte zu vertreten, die ich als Lehrer oder Journalist niemals hätte äußern dürfen.
In diesem Band sind Reden aus fünfundzwanzig Jahren vereint.
Einige der frühen Texte haben wieder wachgerufen, was selbst nach zwei Jahrzehnten noch Spuren in mir hinterlassen hat. Andere Texte zeigen, wie stark sich unsere Lebensumstände und meine Interessen verändert haben, seitdem Deutschland wieder eins wurde. Manche Reden und Aufsätze behandeln also bereits Historisches, andere greifen Gegenwart und Zukunft auf.
Reden, die ich oft weitgehend frei gehalten habe, tragen zudem einen deutlich anderen Duktus als schriftlich abgelieferte Beiträge für Zeitungen oder Bücher. Entstanden ist eine Sammlung aus höchst unterschiedlichen, teilweise typischen, aber auch einigen ganz besonderen Texten.
Am Anfang steht eine Predigt zum Kirchentag im Norden der DDR , die zugleich politische Anspielungen, Kritik und Worte der Hoffnung enthält. Es war das Jahr 1988. Wir wagten damals noch nicht, vom Untergang des Kommunismus zu träumen, aber wir wollten von den Machthabern endlich gehört werden. Es wirkte befreiend auf die große Kirchentagsgemeinde, dass wir offen die Stationierung der Raketen in unseren Wäldern oder die repressive Pädagogik problematisierten. Mehr noch aber war die Gemeinde elektrisiert von Bildern, in denen ihr Lebensgefühl Ausdruck fand: »Seele und Herz unzähliger Menschen in Eiszeit«.
Dieser Band enthält sodann Reden und Artikel, die nach 1990 entstanden sind. In den ersten zehn Jahren dominierten Beiträge zur Aufarbeitung der Stasi-Hinterlassenschaft und zum Umgang mit der kommunistischen Diktatur. Während meiner anschließenden ehrenamtlichen Tätigkeit als Vorsitzender des Vereins »Gegen Vergessen – Für Demokratie« widmete ich mich unter anderem dem Widerstand in der NS-Zeit, der Verteidigung der Demokratie und Fragen von Mentalität und Mentalitätswandel in Transformationsgesellschaften.
Die vorliegende Sammlung von Aufsätzen und Reden belegt die Kontinuität meines öffentlichen Engagements. Als Bundespräsident stehe ich nun – schon im fortgeschrittenen Alter – noch einmal vor neuen Herausforderungen. Als Beispiel für die Erweiterung meines Themenspektrums mag die Rede zu Europa stehen.
Um Wiederholungen zu vermeiden, wurden die Texte des Bandes einem gründlichen Lektorat unterzogen und deutlich und beherzt gekürzt. Ich hoffe, dass dies der Erkennbarkeit meiner Person nützt.
Aufbruch 1989
Abschied vom Schattendasein der Anpassung
Rostock, 19. Juni 1988, Predigt während des Schlussgottesdienstes auf dem Kirchentag 2
Liebe Gemeinde der Weggefährten und Gäste!
An Festtagen wird auch bei Regen alles licht. Aber Kirchentag und Hochzeit sind selten. Tägliche Sorgen engen Blick und Seele ein. Als Kind, Frau und Mann, als Christen und Staatsbürger erleben wir oft mehr Dunkelheit als Licht. Mancher kommt sich benachteiligt vor – und mancher ist es auch. Polarnacht liegt oft Jahrzehnte über ganzen Völkern und Bevölkerungsgruppen – Seele und Herz unzähliger Menschen in Eiszeit! Ungleichmäßig sind die Licht- und Klimazonen über die Erdkugel verteilt, Fülle und Mangel im Leben der Menschheit desgleichen. Vor dem Licht ist die Nacht. Aber in der Tiefe der Nacht wird für den, der wachen muss, die Sehnsucht nach dem Licht am heftigsten. Man kann diese Sehnsucht am Morgen schnell vergessen. Ob das gut ist?
Licht lässt uns sehen – auch die Dinge, die in uns geschehen. Vielleicht so: Ich nehme das Dunkel ernst, ich halte die Sehnsucht am Leben, schlucke sie nicht herunter. Ich warte nicht auf das magische innere Licht, sondern nehme auch meine quälenden Zweifel ernst. Ich verzichte darauf, mein Leben zu retuschieren. Denn ich muss aushalten, was quält, sonst entdecke ich die Sehnsucht nicht. Und ich will mich sehnen, sonst finde ich die Hoffnung nicht.
Hoffnung wächst nicht aus haben , sie wächst aus Sehnsucht nach sein .
Wenn sie echt ist, riskiert sie etwas. Nicht Idylle, sondern Veränderung umgibt sie. Eine Schwester von ihr heißt Unruhe. Bitte
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