Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
Tradition in unserem Volk nicht unser unausweichliches Schicksal ist. Und wir müssen endlich verlernen wollen, was uns unter unser Maß brachte, zum Untertanen degradierte. Schwerlich werden in uns auf Dauer zwei Haltungen in friedlicher Koexistenz nebeneinander existieren können: die Haltung des Untertanen und die Haltung des Citoyen.
Wenn wir ein repräsentatives Bild der DDR -Bevölkerung hier in diesem Weimarer Saal haben, lebten Sie, meine Damen und Herren, vermutlich eher nicht in der Nähe von Helden. Wahrscheinlich sind Ihnen nicht die Studenten begegnet, die Ulbricht einsperren ließ, weil sie 1968 nicht nachließen in ihrem Protest gegen die Sprengung der Leipziger Universitätskirche. 7 Wahrscheinlich sind Ihnen auch nicht die letzten freien Bauern begegnet, die Ende der 1950er Jahre nicht an den Segnungen des angeblichen sozialistischen Frühlings teilhaben wollten, den Eintritt in die LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft) noch ablehnten, als die großen Lautsprecherwagen vor die Höfe fuhren. Und die Streikenden und Demonstranten des 17. Juni 1953 waren wohl auch nicht in Ihrem Umfeld, denn viele von ihnen haben sich schnell in den Westen abgesetzt, sofern sie nicht früher aufgegriffen und in unsere Zuchthäuser gebracht worden waren. Die über Prag 1968 nicht schweigen wollten – kannten Sie die vielleicht? Oder die Kreise um Jürgen Fuchs in Jena, um Robert Havemann in Berlin, diejenigen, die wie Rudolf Bahro dachten oder andere Systemkritiker innerhalb der SED – sind Sie denen begegnet? Oder denjenigen, die als Künstler, als Schriftsteller zu den Unterstützern von Wolf Biermann gehörten, als man ihn aus der DDR hinausgeworfen hatte? Oder kannten Sie vielleicht doch einen der kirchlichen Gesprächskreise, eine der Umwelt- und Friedensgruppen, einen unter jenen, die sich ganz zuletzt in ökumenischer Gemeinschaft um Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung gekümmert hatten? Oder unter jenen, die viel Bereitschaft, für Menschenrechte zu kämpfen, in die Tagespolitik 1989 einbrachten? Oder einen der Sänger, der Schauspieler, der Autoren, die redeten, sangen – und gingen?
Vermutlich haben nur wenige unter Ihnen Zugang zu diesen Milieus gehabt. Und sollten Sie im Fernsehen je von ihnen gehört haben, so haben Sie, so haben wir vielleicht aus sicherer Distanz über sie reden können – doch wann fing es an, dass wir ihre Haltung und unsere Haltung zusammenbringen mochten? Haben Sie überlegt, habe ich überlegt – irgendwann –, deren Anliegen zu Ihrem, zu meinem zu machen?
Haben wir uns durch die, die den Mut zum Anderssein hatten, anregen lassen, auch nur ein winziges Zeichen von Zivilcourage zu geben, das uns Mögliche zu tun? Nicht das Heldenmäßige, aber das uns Mögliche? Das ist eine Frage, der wir uns stellen sollten!
Erinnern wir uns einmal: Haben wir nicht fast bis zuletzt die Mundwinkel zum Lächeln hochgezogen und nach oben gewinkt bei der Maidemonstration? Sind wir nicht fast bis zuletzt zu jeder Manifestation gegangen? Haben wir nicht immer gewählt, obwohl wir schon keinen Grund mehr hatten?
Es war vieles auch gar nicht so schlimm …, nicht wahr? Warum sollte man zum Beispiel einen Konflikt riskieren wegen der Mitgliedschaft in der Gewerkschaft oder in der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft? Schadete ja nichts, ob man drin war oder nicht. Weiß irgendeiner von Ihnen noch – er muss natürlich ein bisschen älter sein als achtzehn –, wie viel Resolutionen er in seinem sozialistischen DDR -Leben zugestimmt hat? Kann einer noch sagen, wofür und wogegen die waren?
Wir wissen, wie schnell unsere Hände hoch gingen. Und wenn wir besonders mutig waren, haben wir einen kleinen Augenblick gezögert, sodass andere bemerkten, dass wir uns nicht gleich gemeldet hatten. Und dann an unseren Schulen das Schweigen, wo wir hätten reden müssen. Ich rede nicht über die Schüler. Ich rede über uns Eltern. Ach ja, wir haben geredet, es gab ja die »vorbereiteten Diskussionsbeiträge«! Sie erinnern sich? Auch an die Versammlungen der Genosseneltern, die es vor den eigentlichen Versammlungen gab? Da wurden andere Dinge besprochen als bei uns. Wir hatten uns entschlossen, auch diese Versammlungen für normal zu halten. Oder gibt es unter Ihnen jemand, der das mal zum Thema gemacht hätte? Ich kenne eine Frau aus meiner früheren Neubaugemeinde Rostock-Evershagen, die den Mut hatte, sie öffentlich zu hinterfragen. Aber irgendwie rückten alle
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