Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
erschrecken wir nicht, sondern bedenken wir, wohin uns die Ruhe gegenüber allem Unrecht geführt hat! Die etablierte Christen- und Bürgergemeinschaft muss wohl lernen, ihren Unruhestiftern zu danken. Sie lehren uns: Finde dich nicht ab mit dem, was du vorfindest. So suchen viele von uns erbittert und doch mit Hoffnung unter dem täglichen Leben das Leben, unter den vielen Wahrheiten die Wahrheit. Und sollte da nicht auch Nähe Gottes sein, wo wir so hungern und dürsten nach dem Wirklichen und Wahrhaftigen, dem Sinn für unser Leben? Da sind wir noch kein Licht, aber wir werden schon erleuchtet. Und wir werden die Brücke finden, die uns gehen, handeln und lieben lässt.
Wie könnten wir dem Leben neu begegnen?
Der 1. Johannesbrief bietet dafür zwei Schwerpunkte an. Erstens: erkennen und bekennen, wie ich wirklich bin; zweitens: Erneuerung erfahren.
Erkennen, »dass ich ein Sünder bin«, heißt es in der Sprache der Bibel. In unserer Sprache heißt das: die eigenen Grenzen erkennen.
Dem Licht – Gott – gegenüber erkenne ich Schatten und Rückseiten: Ich mache nicht nur Fehler, ich werde schuldig. Und dies nicht nur irgendwo am Rande, sondern im Zentrum des Lebens. Schuld, so erkennen wir, ist eine Dimension des menschlichen Lebens. Wer sie leugnet und stur behauptet, der Mensch ist gut, gut, gut, tut sich und seinen Mitmenschen nichts Gutes. Wer dies erkannt hat, wird frei werden, Schuld Schuld und Sünde Sünde zu nennen. Das ist sicher ein schwerer Schritt, besonders für erwachsene Menschen; noch schwerer ist er für formierte Menschengruppen. Aber neues Leben kann wachsen, wo Schuld bekannt und Neuanfang gesucht wird. Es erfüllt Christen mit einem guten Gefühl, wenn ihre Kirche sture Rechthaberei verlässt und für sich selbst Umkehr bejaht. Und es erfüllt uns mit einem neuen Gefühl gegenüber Vertretern der marxistischen Weltanschauung, wenn wir aus der Sowjetunion hören, dass Schuld Schuld genannt werden kann.
Was für den einzelnen Menschen gilt, gilt auch für die Gesellschaft; erkennen und benennen, was ungut ist, und dann anfangen, auf eine neue Art zu leben. Plötzlich entsteht dann Nähe, wo lange Distanz war. Wir brauchen diese Nähe, denn wir haben einen Dialog des normalen Gesprächs, nicht der tönenden Phrasen zu erlernen. Das wünschen wir uns so sehr: ein neues Miteinander in unserer Gesellschaft – Abrüstung und Entspannung als tragende Säulen eines neuen innergesellschaftlichenDialogs! Was außenpolitisch mehr und mehr gilt (Abrüstung), will und muss mehr und mehr in das Innere dieses Landes!
Wir freuen uns über jeden Schritt, der auf diesem Weg zurückgelegt wird, besonders über den begonnenen Dialog zwischen Marxisten und Christen auf unserem Kirchentag.
Beim Ernstnehmen unserer Grenzen und unserer Schuld fällt der Blick in diesem Jahr (vor fünfzig Jahren Reichspogromnacht) auf unsere Unheilsgeschichte gegenüber den Juden.
Neues wird, wo alte Schuld nicht geleugnet wird.
Dem Leben neu begegnen bedeutet Erneuerung erfahren. Wo der erste Schritt getan ist, begegnet uns Jesus. Er findet uns, wie er uns gerufen hat: mangelhaft. Und er vergibt uns. – Da denken wir daran, wie wir klein waren und sich Hände auf unseren Kopf legten, die alles, alles gutmachten. Da konnten wir wieder aufspringen und weiterlaufen, noch immer mangelhaft, aber geliebt.
So wollen wir Vergebung begreifen.
Christine Lavant:
Angst, leg dich schlafen,
Hoffnung, zieh dich an, du musst mit mir gehen.
Schnür die Schuhe fester! Ich hielt dich lang verborgen,
kleine Schwester, schön bist du geworden,
und ich freu mich dran.
Mit der Schwester Hoffnung suchen wir jene geheimnisvolle und verwandelte Beziehung zu dem schöneren Gegenüber unseres beschädigten Menschseins.
Dorothee Sölle spricht einmal von der »Zärtlichkeit Gottes«. Sie ahnen dürfen – das geschieht, wenn wir beieinanderstehen: freundlich, solidarisch, geschwisterlich. Darum ist unser wichtigstes Erlebnis nicht das Interessante und Spektakuläre, sondern das, was uns neu hoffen macht. Das brauchen wir wie Brot zum Leben.
So viele Abgründe warten auf Brücken, die engagierte Menschen bauen:
–Menschen sollen sich begegnen, nicht verurteilen.
–Die Natur will bewahrt, nicht ausgebeutet sein.
–Aus unseren Wäldern soll das Teufelszeug der Raketen verschwinden.
–Aus unseren Schulen sollen die Schwarz-Weiß-Klischees verabschiedet werden.
–Unsere Republik will einladender werden: Wir werden bleiben wollen,
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