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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Krausser
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die künftige Entwicklung der Brüder legte. Sie
brachte ihnen, noch bevor sie eingeschult wurden, das Lesen bei, was zufällig
geschah, aus Mangel an Spielzeug. Albertina schnitt die Schlagzeile der
täglichen Zeitung aus, zerteilte diese mit der Schere in einzelne Buchstaben
und forderte von den Buben, sie möchten jene Schnipsel wieder in eine sinnvolle
Reihenfolge bringen. Beide, Max wie Karl, bewiesen außerordentliches Talent,
sie waren im Alter von vier Jahren bereits fähig, mittels ausgeschnittener
Buchstaben einen Geburtstagsgruß an die Mutter zu formulieren. Auch wenn das
Ergebnis visuell einer anonymen Drohung glich, reagierte Hedwig mit geballtem
Mutterstolz auf die erste schriftliche Botschaft ihrer Kinder, WIR HABEN DICH SO LIEB MAMA , die doch weniger zu Mutters
Geburtstag gratulieren als auf sich aufmerksam machen wollte. Lene, der
Kammerzofe, war gekündigt worden, statt ihrer bestellte nun eine
kartoffelnasige und als erotisches Beutegut nicht ernstzunehmende Amalie das
Haus. Im November 1918 war das deutsche Reich am Ende, es folgte der Verzicht
des Kaisers auf den Thron und alle Staatsämter, während Anfang Januar 1919 der
Richter Loewe seinen vorherigen Posten überraschend zurückbekam. Es hatte eine
Revolution gegeben, Deutsche hatten auf Deutsche geschossen, und Revolution wie
Gegenrevolution beurteilten, in der Eile, die beiden charakteristisch ist, das
dringend benötigte Personal nach eher plumpen Kriterien. Einer, den die alte
Ordnung boshaft aussortiert hatte, konnte naturgemäß kein Feind der neuen
Unordnung sein. So grobschlächtig dachte man auf Seiten der Umstürzler, egal,
ob sie als heilbringende Linke auf die verderbte Rechte einschlugen oder
umgekehrt. Viele, die einfach nur Krawall machen wollten, fanden sich, zu jedem
Spaß und Raubzug bereit, auf irgendeiner Seite wieder. Allen gemeinsam war
alsbald die Wut auf Theodor Loewe, der, anscheinend grundfeige, sich nirgendwo
positionieren mochte. Die Leiche Rosa Luxemburgs war aus dem Landwehrkanal noch
nicht wieder aufgetaucht, als Loewe im April 1919 erneut und diesmal endgültig
in Rente geschickt wurde, was ihn ganz froh stimmte, denn die Zeit war seine
nicht mehr, sie war ihm ebenso endgültig über den Kopf gewachsen, blieb
unübersichtlich, auch im Rückblick, und er beschloß, sich künftig mehr um seine
Söhne zu kümmern, was er, wie er sich eingestand, längst einmal hätte tun
sollen.
    Zwar schlief er manchmal noch mit Albertina, aber es war
nie mehr wie früher, als er neben ihrem Körper auch ihre unmittelbare
Dankbarkeit und Verehrung genießen durfte. Inzwischen war Albertina zu einer
Art Familienmitglied geworden, oder betrug sich zumindest so, mit einem
Selbstbewußtsein, als seien ihr aus Gewohnheit allerlei Rechte erwachsen. Als
die Loewes im Sommer 1920 zur ersten Urlaubsreise nach dem Krieg aufbrachen,
nach Ahrenshoop an der Ostsee, begehrte sie ernsthaft, mit Theodor das
Hotelzimmer zu teilen. Das ging nicht an – Hedwig erhob Einspruch, wenngleich
sie in ihrer natürlichen Gutmütigkeit zu allerhand Kompromissen bereit war. Sie
sei einverstanden, schlug sie vor, wenn Albertina nach Mitternacht heimlich mit
ihr den Platz tausche, solange diese tagsüber vor der Welt, ohne Ansprüche und
Allüren, die Bedienstete spiele, die sie ja nun mal sei. Auf diese Weise könne
jede der beteiligten Parteien nach Lust und Gusto leben, ohne vor den
Argusaugen der Öffentlichkeitihr Gesicht zu verlieren. Genau so wurde es
gehandhabt. Max und Karl, die in einem eigenen Zimmer schliefen, bekamen die
nächtlichen Rochaden mit und stellten diesbezüglich Fragen. So modern, um die
Ménage à trois offen auszuleben, waren die Loewes nicht, selbst Albertina hätte
sich dabei unwohl gefühlt. Theodor dachte lange darüber nach, wie eine Lösung
aussehen könnte, und eines Morgens, am letzten Tag vor der Heimreise nach
Potsdam, erklärte er Hedwig, daß sein Trieb nicht länger unter jenen gewissen
Bedürfnissen leide, denen ein jüngerer Mann wehrlos ausgesetzt sei, weshalb er
sich zum Entschluß durchgerungen habe, Albertina zu kündigen. Er wolle ihr eine
großzügige Abfindung zahlen, sie sei noch – einigermaßen – jung und könne, mit
etwas Glück, bald einen passenderen Mann fürs Leben finden. Hedwig Loewe
reagierte gerührt, doch auch erschrocken darüber, wie kaltherzig Theodor eine
Frau, die ihm einige Jahre viel bedeutet hatte, nun abzuschieben gedachte. Sie
redete ihrem Gatten ins Gewissen, sich das sorgfältig zu

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