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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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Sinnlosigkeit des Lebens sei das Erfinden von Spielregeln, wie wir sie für den Fußball erfunden hatten?) Weiterhin hätte ich in meiner imaginären Beweisführung ein Zitat von Gautier anführen können: »Les dieux eux-mêmes meurent. / Mais les vers souverains / Demeurent / Plus forts que les airains.« [Selbst Götter sterben, die Dichtkunst aber, stärker noch als Erz, überdauert alles.] Ich hätte darlegen können, an die Stelle der religiösen Verzückung sei längst eine ästhetische Verzückung getreten, und zur Krönung des Ganzen hätte ich vielleicht noch eine feixende Bemerkung darüber machen können, dass die Heilige Teresa in der berühmten ekstatischen Statue offenkundig nicht Gott sah, sondern sich einem ausgesprochen körperlichen Genuss hingab.
    Wenn ich mich als glücklichen Atheisten bezeichnete, sollte das Adjektiv nur auf dieses Substantiv bezogen werden und sonst nichts. Ich war glücklich, nicht an Gott zu glauben; ich war glücklich, dass ich mit dem Studium soweit gut vorankam; aber das war auch ungefähr alles. Ich wurde von Ängsten verzehrt, die ich zu verbergen suchte. Trotz meiner intellektuellen Fähigkeiten (wobei ich argwöhnte, ich sei vielleicht nur ein geübter Examensbesteher) war ich sozial, emotional und sexuell unterentwickelt. Und wenn ich glücklich war, von Old Nobodaddy befreit zu sein, stimmten mich die Konsequenzen daraus nicht fröhlich. Kein Gott, kein Himmel, kein Leben nach dem Tode; damit bekam der Tod, wie fern er auch sein mochte, einen ganz anderen Stellenwert.

    Während meiner Studienzeit verbrachte ich ein Jahr in Frankreich und unterrichtete an einer katholischen Schule in der Bretagne. Zu meiner Überraschung waren die Priester, mit denen ich dort zusammenlebte, menschlich so verschieden wie Bürger in Zivil. Einer züchtete Bienen, ein anderer war Druide; einer wettete bei Pferderennen, wieder ein anderer war Antisemit; ein junger Priester sprach mit seinen Schülern über Onanie, ein alter war süchtig nach Fernsehfilmen, selbst wenn er sie hinterher gern mit einem hochmütigen »uninteressant und noch dazu unmoralisch« abtat. Einige Priester waren intelligent und weltgewandt, andere dumm und leichtgläubig; manche offenkundig fromm, andere skeptisch bis zur Blasphemie. Ich weiß noch, wie schockiert die Runde am Refektoriumstisch war, als der subversive Père Marais den druidischen Père Calvard in eine Debatte darüber verwickelte, auf welches ihrer Heimatdörfer zu Pfingsten der qualitativ bessere Heilige Geist ausgegossen würde. Hier sah ich auch meine erste Leiche: die von Père Roussel, einem jungen Priester und Lehrer. Er war in einem Vestibül am Haupteingang der Schule aufgebahrt; Schüler und Lehrerschaft wurden ermuntert, ihn dort zu besuchen. Ich spähte nur durch die Scheiben der Flügeltüren und redete mir ein, das geschehe aus Taktgefühl; dabei war es höchstwahrscheinlich nichts als Angst.
    Die Priester waren freundlich zu mir, hänselten mich ein bisschen und behandelten mich ein bisschen verständnislos. »Ah«, sagten sie, wenn sie mich auf dem Flur anhielten und mit scheuem Lächeln am Arm fassten, »La perfide Albion.« Es gab dort auch einen gewissen Père Hubert de Goësbriand, ein schlichtes Gemüt, aber ein gutmütiger Kerl; er hätte seinen prachtvollen bretonischen Adelsnamen in der Lotterie gewonnen haben können, so wenig passte er zu ihm. Père de Goësbriand war Anfang fünfzig, dicklich, schwerfällig, kahlköpfig und taub. Das größte Vergnügen seines Lebens bestand darin, während der Mahlzeiten dem schüchternen Schulsekretär Monsieur Lhomer Streiche zu spielen: Er steckte ihm heimlich Besteck in die Tasche, blies ihm Zigarettenrauch ins Gesicht, kitzelte ihn im Nacken oder hielt ihm unverhofft das Senftöpfchen unter die Nase. Der Schulsekretär ertrug diese lästigen täglichen Provokationen mit wahrhaft christlicher Geduld. Mich knuffte Père de Goësbriand anfangs bei jeder Begegnung in die Rippen oder zog mich an den Haaren, bis ich ihn fröhlich einen Blödmann nannte und er damit aufhörte. Er war im Krieg an der linken Gesäßhälfte verwundet worden (»Wolltest wohl weglaufen, Hubert!« – »Nein, wir waren eingekesselt.«), darum reiste er zu ermäßigtem Preis und hatte eine Zeitschrift für Anciens Combattants abonniert. Die anderen Priester behandelten ihn mit kopfschüttelnder Nachsicht. »Pauvre Hubert« war die Bemerkung, die man bei den Mahlzeiten am häufigsten hörte, ob beiseite gemurmelt

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