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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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TU’S JETZT . Gewehr in den Mund. Viel besser geworden, seit die Thames Valley Police hier war und meine . 12 er-Flinte mitgenommen hat, weil sie mich auf Desert Is land Discs gehört hatte. Jetzt hab ich nur noch das Luftgewehr [seines Sohnes]. Bringt nichts. Kein Schmackes. Also WERDEN WIR ZUSAMMEN ALT .«
    Früher wurde unbefangener über den Tod gesprochen: nicht über den Tod und das Leben danach, sondern über Tod und Vernichtung. In den 1920 er-Jahren ging Sibelius in Helsinki in das Restaurant Kämp und setzte sich an den sogenannten »Zitronentisch«; die Zitrone ist das chinesische Todessymbol. Dort war ihm und seinen Tischgenossen – Malern, Industriellen, Ärzten und Juristen – nicht nur erlaubt, über den Tod zu sprechen, es wurde geradezu verlangt. Einige Jahrzehnte zuvor diskutierte in Paris ein lockerer Zusammenschluss von Schriftstellern – Flaubert, Turgenew, Edmond de Goncourt, Daudet und Zola – bei den Diners im Café Magny das Thema friedlich in geselliger Runde. Alle waren Atheisten oder eingefleischte Agnostiker; sie fürchteten den Tod, sahen ihm aber tapfer ins Auge. »Menschen wie wir«, schrieb Flaubert, »sollten der Religion der Verzweiflung anhängen. Man muss seinem Schicksal ebenbürtig sein, soll heißen, ebenso gleichmütig. Man sagt ›So ist es! So ist es!‹, schaut in die schwarze Grube zu seinen Füßen hinab und bleibt dadurch ruhig.«
    Ich wollte nie den Geschmack eines Gewehrlaufs im Mund haben. Gemessen daran ist meine Todesangst moderat, vernünftig, praktisch. Und wollte man einen neuen Zitronentisch einberufen oder wieder Magny-Diners zu diesem Thema veranstalten, könnte das Problem auftauchen, dass einige Anwesende vom Konkurrenzfieber gepackt werden. Warum sollten Männer mit ihrer Sterblichkeit weniger angeben als mit ihren Autos, ihrem Einkommen, ihren Frauen, der Länge ihres Schwanzes? »Nächtliche Schweißausbrüche und Schreie – ha!  – das ist Kinderkram. Wart nur, bis du auch …« Damit wird unsere persönliche Qual nicht nur als trivial entlarvt, sondern auch als schlappschwänzig. MEINE TODESANGST IST GRÖSSER ALS DEINE, UND MIR KOMMT SIE ÖFTER .
    Andererseits zieht man bei dieser Männerprahlerei vielleicht gerne den Kürzeren. Es könnte ein kleiner Trost sein, dass es beim Todesbewusstsein immer – fast immer – jemanden gibt, der noch schlimmer dran ist als man selbst. Nicht nur R., sondern auch unser gemeinsamer Freund G. Der hat längst die Goldmedaille der Thanatophoben gewonnen, da le réveil mortel ihn schon mit vier Jahren ( vier! Unverschämtheit! ) aufschreckte. Die Botschaft erschütterte ihn dermaßen, dass seine gesamte Kindheit vom ewigen Nicht-Sein und von der schrecklichen Unendlichkeit überschattet blieb. Auch als Erwachsener wird er noch stärker vom Tod und von viel tieferen Depressionen heimgesucht als ich. Eine depressive Erkrankung lässt sich an neun Grundmerkmalen erkennen (von anhaltender Niedergeschlagenheit über Schlaflosigkeit und mangelndes Selbstwertgefühl bis zu wiederkehrenden Todesgedanken und wiederholter Selbstmordabsicht). Liegen fünf dieser Symptome über mehr als zwei Wochen hinweg vor, kann eine Depression diagnostiziert werden. Vor etwa zehn Jahren begab G. sich in stationäre Behandlung, nachdem er es auf ganze neun von neun Punkten gebracht hatte. Diese Geschichte erzählte er mir ohne jedes Konkurrenzgehabe (ich habe es längst aufgegeben, mit ihm konkurrieren zu wollen), wohl aber mit einem gewissen bitteren Triumphgefühl.
    Jeder Thanatophobe sucht zeitweilig Trost bei einem Worst-case-Beispiel. Ich habe G., er hat Rachmaninow, der furchtbare Angst vor dem Tod wie auch vor einem möglichen Weiterleben danach hatte, der als Komponist das Dies Irae häufiger in seine Musik einfließen ließ als jeder andere, der als Kinobesucher bei der Friedhofsszene am Anfang von Frankenstein unter wirrem Gebrabbel aus dem Saal rannte. Seine Freunde wunderten sich nur, wenn er einmal nicht vom Tod reden wollte. Ein typisches Beispiel: Im Jahre 1915 besuchte er die Lyrikerin Marietta Schaginjan und deren Mutter. Erst ließ er sich von der Mutter die Karten legen, weil er (natürlich) erfahren wollte, wie lange er noch zu leben hatte. Dann widmete er sich der Tochter und sprach mit ihr über den Tod, diesmal anhand einer Erzählung von Arzybaschew. Auf dem Tisch stand eine Schale mit gesalzenen Pistazien bereit. Rachmaninow aß eine Handvoll, redete vom Tod, rückte mit dem Stuhl näher an die Schüssel

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