Nichts, was man fürchten müsste
gesamten Fahrt unter Deck blieb und einen Plastikbecher nach dem anderen vollkotzte, während Grandpa, die Kappe bis über die Augenbrauen heruntergezogen, stoisch einen vollen Behälter nach dem anderen entgegennahm. Statt die Becher wegzuwerfen, reihte er sie allesamt auf einem Regal auf, wie um seine Frau bloßzustellen. Ich glaube, das ist meines Bruders liebste Kindheitserinnerung.
Zierlich oder einfach nur klein, nachgiebig oder herrisch? In unseren unterschiedlichen Adjektiven spiegeln sich bruchstückhafte Erinnerungen an halb vergessene Gefühle. Ich finde keine Erklärung dafür, warum ich Grandma lieber mochte oder sie mich. Fürchtete ich mich vor Grandpas autoritärer Art (obwohl er mich nie geschlagen hat) und fand ich seine vorgelebte Männlichkeit grobkörniger als die von Dad? Fühlte ich mich einfach zu Grandma als weiblichem Wesen hingezogen, von denen es in unserer Familie wenige genug gab? Obwohl mein Bruder und ich sie zwanzig Jahre lang kannten, erinnern wir uns kaum an etwas, was sie gesagt hat. Die zwei Beispiele, die er beisteuern kann, beziehen sich beide auf Begebenheiten, bei denen sie unsere Mutter in Rage brachte, daher haben sich ihre Worte vielleicht eher durch ihre vergnügliche Wirkung eingeprägt als durch ihren Inhalt. Die erste Bemerkung fiel an einem Winterabend, als unsere Mutter sich am Kamin wärmte. Grandma gab ihr den Rat: »Setz dich nicht so nahe ran, das ist nicht gut für die Beine.« Die zweite fiel fast eine Generation später. C., die Tochter meines Bruders, damals etwa zwei Jahre alt, bekam ein Stück Kuchen angeboten und nahm es, ohne sich zu bedanken. »Sag danke, mein Schnuckelchen«, meinte die Urgroßmutter – worauf »unsere Mutter an die Decke ging, weil ein derart kindischer Ausdruck gefallen war«.
Sagen solche Erinnerungsfetzen mehr über Grandma, über unsere Mutter oder über meinen Bruder aus? Sind sie Zeichen von Herrischkeit? Mein eigener Beweis für ihre »Nachgiebigkeit« ist, wie mir jetzt klar wird, in Wirklichkeit nicht existent; aber vielleicht müsste er das per definitionem auch sein. Und so sehr ich auch mein Gedächtnis durchforste, ich finde kein einziges direktes Zitat von dieser Frau, die ich als Kind doch, wie ich glaube, geliebt habe; nur ein indirektes. Als Grandma schon lange tot war, gab Ma mir eine ihrer Standardweisheiten wieder. »Sie hat immer gesagt: ›Es gäbe keine schlechten Männer auf der Welt, wenn es keine schlechten Frauen gäbe.‹« Grandmas Beharren auf Evas sündigem Wesen wurde mir mit beträchtlichem Spott übermittelt.
Beim Ausräumen des elterlichen Bungalows fand ich einen kleinen Stapel Postkarten aus den 1930 er-bis 1980 er-Jahren. Sie waren alle im Ausland aufgegeben worden; was aus Großbritannien selbst kam, war offenbar seines reizvollen Gehalts ungeachtet irgendwann aussortiert worden. Da schreibt mein Vater in den dreißiger Jahren an seine Mutter (»Heiße Grüße aus dem kalten Brüssel«; »Österreich ruft!«); mein Vater aus Deutschland an meine Mutter – damals seine Freundin? Verlobte? – in Frankreich (»Ich weiß nicht, ob dich all die Briefe erreicht haben, die ich dir aus England geschrieben habe. Hast du sie bekommen?«); mein Vater an seine kleinen Söhne daheim (»Ich hoffe, ihr hört euch brav das Cricket-Match im Radio an«), um ihnen mitzuteilen, dass er Briefmarken für mich und Streichholzschachteln für meinen Bruder erworben hatte. (Die Streichholzschachteln hatte ich ganz vergessen; ich wusste nur noch, dass er Orangenpapier sammelte.) Dann gibt es Karten voller pubertärer Scherze von meinem Bruder und mir. Ich aus Frankreich an ihn: »Ferienbeginn mit superbem Feuerwerk von 5 Kathedralen. Morgen rasch die Loire-Schlösser abfackeln.« Er an mich aus Champéry, wohin Dad ihn auf einen Schulausflug mitgenommen hatte: »Sind wohlbehalten angekommen und soweit zufrieden, nur mit den Schinkensandwiches nicht.«
Die Daten der frühesten Postkarten kann ich nicht feststellen, da die Briefmarken mit Dampf abgelöst wurden – zweifellos für meine Sammlung – und damit auch die Poststempel weg sind. Doch mir fällt auf, wie unterschiedlich mein Vater die Karten an seine Mutter unterschreibt: »Leonard«, »Immer dein Leonard« bis hin zu »Liebe Grüße, Leonard« und sogar »Liebe Grüße und Küsse, Leonard«. Auf den Karten an meine Mutter zeichnet er als »Pip«, »dein Pip«, »Herzliche Grüße, Pip«, »Liebe Grüße, Pip« und »Alles Liebe, Pip«: allmähliche
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