Nichts, was man fürchten müsste
Weltkrieg – Beweise für seinen Dienst in Frankreich 1916 – 17 , eine Zeit, über die er nie sprechen wollte.
Diese flache Schublade reicht auch noch für das Fotoarchiv der Familie. Bündel mit der Aufschrift »Wir«, »Die Jungs« und »Antiquitäten« in der Handschrift meines Vaters. Da ist Dad in einer Schullehrer-Robe und der Uniform der Royal Air Force zu sehen, im Abendanzug, in kurzen Wanderhosen und im weißen Cricket-Anzug, meist mit einer Zigarette in der Hand oder einer Pfeife im Mund. Da ist Mum in schicken selbst geschneiderten Kleidern, einem zweiteiligen Badeanzug, der nichts enthüllt, und prächtig herausgeputzt für einen Freimaurerball. Da ist der französische assistant, der wahrscheinlich Maxim: le chien fotografierte, und der spätere assistant, der mir half, die Asche meiner Eltern an der Westküste Frankreichs zu verstreuen. Da sind mein Bruder und ich in jüngeren und blonderen Tagen bei der Vorführung einer Kollektion von Selbstgestricktem mit Hund, Strandball und Kinderschubkarre; hier hocken wir auf demselben Dreirad; da erscheinen wir serienweise und mit leichten Variationen auf Schnellporträts und später im Papprahmen auf Souvenirs von Nestlé’s Playland, Olympia 1950 .
Hier liegt auch Grandpas Fotoakte, ein in rotes Leinen gebundenes Album mit dem Titel »Scenes from Highways & Byways«, das im August 1913 in Colwyn Bay gekauft worden war. Es umfasst den Zeitraum von 1912 bis 1917 , danach hängte Großvater anscheinend die Kamera an den Nagel. Da ist Bert mit seinem Bruder Percy, Bert mit seiner Verlobten Nell, dann beide zusammen an ihrem Hochzeitstag: 4 . August 1914 , dem Tag, an dem der Erste Weltkrieg ausbrach. Dann taucht unter den verblichenen Sepia-Ab zügen von unbekannten Verwandten und Freunden plötzlich etwas Verunstaltetes auf: das Bild einer Frau in weißer Bluse auf einem Liegestuhl, datiert auf »Sept. 1915 «. Eine Bleistiftangabe neben dem Datum – ein Name? ein Ort? – wurde fast vollständig ausradiert. Das Gesicht der Frau wurde so böswillig zerstochen und zerkratzt, dass nur noch das Kinn und das drahtige, Weetabix-ähnliche Haar zu erkennen sind. Ich wüsste gern, wer das wem angetan hat und warum.
Als Teenager hatte ich selbst eine fotografische Phase, die auch bescheidene häusliche Entwicklungsarbeiten einschloss: eine Entwicklerdose aus Plastik, eine orange Dunkelkammerlampe und ein Rahmen für Kontaktabzüge. Während ich dieser Leidenschaft frönte, schrieb ich einmal auf die Werbeanzeige in einer Zeitschrift für ein preisgünstiges und doch wundertätiges Produkt, das meine schlichten Schwarz-Weiß-Abzüge in prachtvolle, lebensechte Farbbilder zu verwandeln versprach. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob ich meine Eltern fragte, bevor ich die Karte abschickte, oder ob ich enttäuscht war, als sich das versprochene Wunderding als ein Bastelsatz mit einem kleinen Pinsel und ein paar bunten Plättchen eines Farbstoffs erwies, der auch auf Fotopapier haftete. Jedenfalls machte ich mich ans Werk und gestaltete die bildlichen Zeugnisse meiner Familie lebendiger, wenn auch nicht wahrer. Da steht Dad in leuchtend gelben Cordhosen und einem grünen Pullover vor einem monochromen Garten; Grandpa in Hosen von genau demselben Grün, während Grandmas Bluse einen leicht verwässerten Grünton aufweist. Alle drei haben Hände und Gesichter in übernatürlichem, hitzig-erregtem Rosa.
Mein Bruder misstraut der Wahrheit von Erinnerungen grundsätzlich; ich misstraue der Färbung, die wir ihnen geben. Jeder von uns hat seinen eigenen billigen Malkasten aus irgendeinem Katalog und seine Lieblingsfarben. Zum Beispiel habe ich mich vor ein paar Seiten erinnert, dass Grandma »zierlich und nachgiebig« war. Mein Bruder holt auf Befragen seinen Malpinsel hervor und kontert mit »klein und herrisch«. Sein mentales Album enthält auch mehr Schnappschüsse als meines von einem seltenen Drei-Generationen-Familienausflug Anfang der 1950 er-Jahre nach Lundy Island. Für Grandma war das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das einzige Mal, dass sie die britische Hauptinsel verließ, für Grandpa das erste Mal seit seiner Rückkehr aus Frankreich 1917 . Das Meer war an jenem Tag kabbelig, Grandma war hundeübel, und bei der Ankunft in Lundy erfuhren wir, dass wir bei der rauen See nicht ausgeschifft werden konnten. Meine Erinnerungen an all das sind verblichen sepiabraun, die meines Bruders noch leuchtend bunt. Er beschreibt, wie Grandma während der
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