Nick aus der Flasche
erschrak. Er wollte sie nicht traurig sehen. Er war ihr Diener, er musste dafür sorgen, dass es ihr gut ging, sie sich wohlfühlte, es ihr an nichts fehlte. Als er sich für sein erbärmliches Benehmen entschuldigen wollte, sagte sie ernst: »Ich wünsche mir, dass du das Leben eines jungen Mannes führen kannst, soweit das als Flaschengeist möglich ist. Du sollst in die Schule gehen und lernen dürfen.« Sie nickte andächtig. »Ja, das wünsche ich mir für dich.«
Plötzlich rumpelte es und Julie zuckte zusammen. »Was war das?«
Er deutete auf einen dunkelblauen Rucksack, der auf einmal neben dem von Julie aufgetaucht war.
Vorsichtig näherte sie sich der Tasche und öffnete den Reißverschluss. Nick blieb dicht an ihrer Seite stehen. »Sei vorsichtig.«
»Da sind Schulsachen drin!« Sie zog dasselbe Mathematikbuch heraus, das sie ihm zuvor gezeigt hatte. Es folgten weitere Bücher, Mappen, Schreibsachen, Blöcke … »Du bist in denselben Kursen wie ich!« Erstaunt sah sie ihn an. »Wie hast du das gemacht?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Der Meister spricht den Wunsch und dann erfüllt er sich einfach.« Nick wusste wirklich nicht, wie das genau funktionierte mit dem Wünschen. Solomon hatte ihm das nie erklärt, doch Nick vermutete, dass der Flaschengeist eine Art Katalysator dafür war. Er spürte auf jeden Fall keine Veränderung.
»Ist sonst noch was drin?«, fragte er und kniete sich neben sie.
»Ja.« Sie zog einige Dokumente hervor. »Ein Schülerausweis von meiner Schule und ein Pass!«
»Was steht drin?« Ihm klopfte das Herz bis zum Hals. Mit zitternden Fingern nahm er den dunkelblauen Ausweis entgegen und klappte ihn auf.
Julie schaute ihm über die Schulter. »Nicolas Tate, geboren in New York. Stimmt das?«
»Ich glaube schon.« Schwach erinnerte er sich an New York. Dort hatte er gelebt.
»Du bist fast ein Jahr älter als ich. Bald wirst du achtzehn!«
Nick starrte auf das Datum. Er fühlte instinktiv, dass das Geburtsjahr nicht stimmen konnte, doch der Tag … » Sechzehnter Juni .«
Während er nur in den Pass starren konnte, redete sie unaufhaltsam weiter.
»Du besitzt sogar eine Sozialversicherungskarte! Mann, hoffentlich bekommen sie uns nicht wegen Urkundenfälschung dran.«
»Die Dokumente sehen verdammt echt aus«, murmelte Nick. Er konnte noch gar nicht begreifen, was sich eben abspielte.
»Einen Führerschein hast du auch!« Sie sprang auf. »Fehlt nur noch das Auto. Vielleicht steht es vor der Tür?« Sie rannte zum Fenster, während Nick auf dem Boden hocken blieb, zu überrascht, um irgendetwas zu tun.
Julie hatte einen Wunsch für ihn geopfert. Träumte er auch nicht? Was, wenn er in Wahrheit immer noch bei Solomon war?
»Ich sehe kein Auto. Schade«, sagte sie und kehrte zu ihm zurück. »Das wäre wirklich cool gewesen. Wir hätten zusammen fahren können. Oder vielleicht hättest du mich ja mal fahren lassen. Ich hab auch einen Führerschein, aber Dad sagt, wenn ich ein Auto möchte, muss ich mir das erst verdienen. Mit kleinen Diensten, für ältere Leute einkaufen oder Zeitungen austragen. Er ist so verdammt streng!«
Vorsichtig packte er alles in den Rucksack und schloss den Reißverschluss, wobei er nur mit halbem Ohr zuhörte, wie sie sich über ihren Vater beschwerte. »Heißt das, ich darf morgen mit dir zur Schule gehen?«
»Am Montag. Morgen ist Samstag. Mann, wie werden die anderen reagieren, wenn du einfach in die Schule spazierst?«
»Es wird alles klappen.« Langsam stand Nick auf. Tränen trübten seine Sicht. »Julie …« Voller Dankbarkeit schloss er sie in die Arme, genoss ihre Wärme, ihren lieblichen Duft. Sie fühlte sich so echt an, und er hätte vor Glück platzen können. »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.« Lachend wirbelte er sie herum und setzte sie erst ab, als sie sagte: »Mir wird schwindlig.«
»Ich werde mich irgendwie dafür revanchieren. Versprochen.« Bestimmt schaute er, berauscht von so viel Glück, dämlich drein, aber das war ihm im Moment egal. »Jetzt hast du einen Wunsch verwirkt und nicht mal für dich.« Er freute sich, dass sie so selbstlos war. Was für ein Glück er mit ihr hatte!
Rein instinktiv zog er sie erneut in die Arme. »Danke!« Er versenkte die Nase in ihrem weichen Haar und fuhr mit den Fingern darunter. Diese Nähe tat gut. Zu lange hatte er darauf verzichten müssen. Wenn er Julie spürte, fühlte er sich lebendig. Nicht als Geist.
Erst als ihre Hände über seinen
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