Nick Stone - 03 - Verbrannte Spuren
musste ich die Handschuhe schon wieder ausziehen. Während ich das freie Ende des Seidenfadens mit meinen Zähnen festhielt, schien ich ewig lange zu brauchen, bis es mir gelang, das Drahtstück mit der einen Hand und den Seidenfetzen mit der anderen zu erfassen. Nun konnte ich endlich anfangen, mit einem Ende des Drahtstücks in immer gleicher Richtung über die Seide zu reiben. Nach etwa zwei Dutzend Strichen hörte ich auf und überzeugte mich davon, dass der Seidenfaden sich nicht verdreht hatte, was sich auf die Ausrichtung des kleinen Metallstücks auswirken konnte, wenn ich es losließ.
Ich holte meine Taschenlampe heraus, knipste sie an und nahm sie in den Mund. Weiter zusammengekauert, damit Faden und Nadel vor dem Wind geschützt waren, ließ ich das Drahtstückchen los und beobachtete, wie es kreiselte. Es kam jedoch bald zur Ruhe und bewegte sich nur noch leicht von einer Seite zur anderen. Wo der Polarstern stand, wusste ich von meinem im Schnee markierten Nordpfeil, der allerdings schon fast zugeschneit war; jetzt musste ich nur noch feststellen, welches Ende des durch Reiben auf Seide magnetisierten Drahtstücks nach Norden zeigte. Die beiden Enden unterschieden sich dadurch, wie die Zange des Leathermans sie abgeknipst hatte.
Das Keuchen und Grunzen hinter mir ging weiter, als ich vor Kälte zitternd überlegte, was ich als Nächstes tun sollte. Unser Nachtmarsch bei diesem Wetter würde ein Alptraum werden, aber wir mussten die Bahnstrecke unbedingt bis zum Morgen erreichen. Ob wir Spuren hinterließen, war mir jetzt gleichgültig; wir brauchten Straßen, um schneller voranzukommen, und falls Tom - oder vielleicht ich - wegen Unterkühlung nicht weiterkonnte, war entlang einer Straße leichter irgendein Unterschlupf zu finden. Mein neuer Plan sah vor, nach Westen zu marschieren, bis wir auf eine Straße stießen, rechts abzubiegen und ihr nach Norden zur Bahnlinie zu folgen. Zu dem wenigen, was ich über Estland wusste, gehörte die Tatsache, dass seine Hauptverkehrsader und die einzige Bahnstrecke des Landes zwischen Tallinn und St. Petersburg in West-Ost-Richtung verliefen. Alle Nebenstraßen auf beiden Seiten mussten irgendwann zu der großen Fernstraße führen, wie Bäche in einen Fluss einmünden.
Da bei diesem Wetter niemand die Taschenlampe sehen würde, knipste ich sie erneut an und richtete den Lichtstrahl nach unten, während ich mich davon überzeugte, dass der Kompass weiterhin funktionierte. Als seine Nadel sich ausrichtete, merkte ich, dass ich den Wind für meine Zwecke nutzen konnte. Er schien genau aus Westen zu kommen; marschierte ich ihm also entgegen, war ich in die Richtung unterwegs, in die ich wollte.
Ich war jetzt marschbereit: Handschuhe angezogen, Seidenfetzen in der Jackentasche, Faden und Nadel um einen Finger gewickelt. Ich drehte mich nach Tom um, der mit wild schlenkernden Armen weiter eifrig Kniebeugen machte.
»Okay, Kumpel, wir müssen weiter.«
»Nicht mehr lange, Nick, was?«
»Nein, nicht lange. Maximal ein paar Stunden.«
Der Schneesturm war zu einem regelrechten Blizzard geworden, in dem ich kaum mehr die Hand vor Augen sah. Ich musste nach jeweils ungefähr zehn Schritten stehen bleiben und die Nadel an dem Seidenfetzen reiben, um sie wieder magnetisch zu machen, bevor ich feststellen konnte, wo Westen lag. Bei diesen Sichtverhältnissen konnten wir unmöglich in gerader Linie marschieren. Wir bewegten uns langsam im Zickzack nach Westen und hofften weiter auf eine Straße.
Wir waren seit einer knappen Dreiviertelstunde unterwegs. Der Wind kam weiter von vorn und war so eisig, dass meine Augen heftig tränten. Ich hatte nichts, womit ich mein Gesicht hätte schützen können; ich konnte nur gelegentlich den Kopf in den Jackenkragen einziehen, um mir etwas Erleichterung zu verschaffen. Der Sturm trieb Eisnadeln in alle Öffnungen meiner Kleidung.
Ich behielt weiter die Führung, spurte einen Weg durch den Schnee und blieb immer wieder stehen, ohne mich jedoch umzudrehen, bis Tom zu mir aufgeschlossen hatte. Hörte ich ihn hinter mir herankommen, stapfte ich wieder ein paar Schritte weiter. Als ich mich beim nächsten Halt umdrehte, konnte ich eben erkennen, wie Tom gegen den Sturm ankämpfend auf mich zukam. Ich war so mit meiner Navigation beschäftigt gewesen, dass ich nicht gemerkt hatte, wie langsam er geworden war. Ich kauerte mich auf den Knien liegend zusammen, um den Seidenfetzen vor Schnee zu schützen, und magnetisierte die Nadel, während
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