Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Zweiter Teil
nun sei er ganz ausgehungert.
Gorgo konnte sich nicht darein finden, daß gesagt werden könne, der Junge habe es schlechter gehabt, als er mit ihm gereist
sei, als bei den Wildgänsen, und er flog sogleich langsamer. »Warum hast du nicht früher davon gesagt?« fragte er. »Du sollst
soviel zu essen haben, wie du nur willst. Du brauchst nicht zu hungern, wenn du einen Adler zum Reisekameraden hast.«
Gleich darauf gewahrte der Adler einen Bauern, der ganz unten am Ufer des Flusses ein Feld besäte. Das Korn war in einem Korb,
der dem Mann vorn auf der Brust herabhing, und jedesmal, wenn der Korb leer war, holte er neues Saatkorn aus einem Sack, der
am Ackerrain stand. Der Adler konnte sich wohl ausrechnen, daß der Sack voll von dem Besten war, was sich der Junge nur wünschen
konnte, und er ließ sich hinabsinken.
Ehe aber der Adler noch den Boden erreicht hatte, entstand ein entsetzlicher Lärm rings um die beiden. Da kamen Krähen und
Spatzen und Schwalben da hergeschossen und schrien ganz ohrenbetäubend, in dem Glauben, daß sich der Adler auf einen Vogel
stürzen wolle. »Weg, weg, du Räuber! Weg, weg, du Vogelmörder!« riefen sie. Sie machten einen solchen Spektakel, daß der Bauer
aufmerksam darauf wurde und herbeigelaufen kam. Da sah sich der Adler genötigt zu fliehen. Der Junge hatte nicht ein einziges
Körnchen bekommen.
Es war ganz merkwürdig mit diesen kleinen Vögeln. Nicht genug, daß sie den Adler zwangen, zu fliehen, sie verfolgten ihn auch
noch eine ganze Strecke das Tal entlang, und überall hörten die Leute ihr Geschrei, die Frauen kamen auf den Hofplatz hinaus
und klatschten indie Hände, so daß es knallte wie Gewehrsalven, und die Männer kamen, die Büchse in der Hand, herbeigestürzt.
Und so erging es jedesmal, wenn sich der Adler auf die Erde herabsinken ließ. Der Junge hatte die Hoffnung, daß ihm der Adler
Nahrung verschaffen könne, schon ganz aufgegeben. Er hatte nie gewußt, daß Gorgo so verhaßt und verabscheut war. Er war nahe
daran, Mitleid mit ihm zu haben.
Nach einer Weile flogen sie über einen großen Bauerhof, wo die Hausfrau offenbar einen großen Backtag gehabt hatte. Sie hatte
eine Platte mit frischgebackenem Weißbrot zum Abkühlen auf den Hofplatz gestellt, und stand selbst daneben und gab acht, daß
weder der Hund noch die Katze kamen und die Brote stahlen.
Der Adler ließ sich auf den Hof hinab, aber er wagte nicht, sich gerade vor den Augen der Bäuerin niederzulassen. Er flog
ratlos hin und her. Ein paarmal war er ganz dicht über dem Schornstein, flog aber wieder in die Höhe.
Aber dann gewahrte die Bäuerin den Adler. Sie erhob den Kopf und verfolgte ihn mit den Augen. »Wie sonderbar sich doch der
Vogel gebärdet!« sagte sie. »Ich glaube, er will eins von meinen Weißbroten haben!«
Es war eine schöne Frau, groß und blond mit einem offenen und fröhlichen Gesicht. Sie lachte so herzlich, nahm ein Brot von
der Platte und hielt es hoch über ihrem Kopf. »Wenn du das haben willst, so nimm es!« sagte sie.
Der Adler konnte nicht verstehen, was sie sagte, aber er war sich doch gleich klar darüber, daß sie ihm dasBrot schenken wollte. In sausender Fahrt schoß er herunter, schnappte nach dem Brot und hob sich wieder in die Luft empor.
Als der Junge den Adler das Brot ergreifen sah, traten ihm Tränen in die Augen. Teils weinte er aus Freude, weil er nun mehrere
Tage nicht zu hungern brauchte, teils war er gerührt darüber, daß die Bäuerin dem wilden Raubvogel ihr Brot gegeben hatte.
Und während er nun hier in dem Tannenwipfel saß, konnte er, sobald er nur wollte, die große, blonde Frau vor sich sehen, wie
sie da auf dem Hofplatz stand und das Brot in die Höhe hob.
Sie wußte sicher, daß der große Vogel ein Königsadler war, ein Räuber, den die Leute sonst mit scharfen Schüssen begrüßten,
und sie sah wohl auch den wunderlichen Wechselbalg, den er auf dem Rücken trug, aber sie hatte sich nicht daran gekehrt, wer
sie waren; sobald sie begriff, daß sie hungrig waren, teilte sie ihr gutes Brot mit ihnen.
»Wenn ich jemals wieder ein Mensch werde,« dachte der Junge, »so will ich hinaufreisen und sehen, daß ich die schöne Bäuerin
an dem großen Elf finde, und dann will ich ihr danken, weil sie so gut gegen uns gewesen ist.«
Waldbrand
Während Niels Holgersen noch mit seinem Frühstück beschäftigt war, spürte er einen schwachen Brandgeruch, der von Norden kam.
Er wendete sich
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