Niemand hört dich schreien (German Edition)
kein Alter, aber für einen Boxer war es uralt. In der Army hatte Jacob bei den Golden-Gloves-Meisterschaften geboxt. Seither war er immer Freizeitboxer gewesen. Boxen bedeutete für ihn Nervenkitzel, es bewies ihm, dass er es immer noch draufhatte. Was auch immer es war.
Doch der Sport forderte seinen Tribut. Jacob kam inzwischen nicht mehr so schnell auf die Beine wie früher. In den letzten Monaten hatte er so viele Hiebe eingesteckt, dass es kaum einen Tag gab, an dem ihm nicht alles wehtat. Watson hatte recht. Er erholte sich nicht mehr so gut wie mit zwanzig. »Ich lass es mir durch den Kopf gehen.«
Watson musterte ihn. »Blödsinn. Sie hören ja doch nicht auf.«
Damit entlockte er Jacob ein schuldbewusstes Grinsen.
Die meisten Außenstehenden – Leute, die nicht bei der Polizei waren – verstanden nicht, wie man im Angesicht des Todes über Alltägliches plaudern und so locker sein konnte. Doch diese Art Geplänkel, selbst der Humor, war ein Mittel, Dampf abzulassen, der Anspannung die Spitze zu nehmen und nicht durchzudrehen.
Jacob zog Gummihandschuhe aus der Jackentasche. »Ist die Spurensicherung noch nicht da?«
»Hing noch an einem anderen Tatort fest, soll jede Minute hier sein.«
»Gut.« Er tauchte unter dem gelben Absperrband durch und schlenderte zu seinem Partner Zack Kier hinüber.
Zack hatte das Gesicht dem eisigen Fluss zugewandt. Er war groß, breitschultrig und von schlanker Statur, die bestens zu dem von ihm so geliebten Triathlon passte. Seine Haut war für die Jahreszeit ungewöhnlich stark gebräunt, ein Souvenir von seinem Karibikurlaub, den zweiten Flitterwochen mit seiner Frau Lindsay. Sein schwarzer Mantel reichte ihm bis zu den Knien, und er trug Plastikhandschuhe über den schwarzen Fäustlingen.
»Also, was haben wir?«, fragte Jacob und zog sich die Handschuhe über.
Beim Klang von Jacobs Stimme drehte Zack sich um und nickte in Richtung des vereisten Flussufers. »Sieh es dir selbst an.«
Jacob folgte Zack die Böschung zum Fluss hinunter. Wo Wasser und Land aufeinandertrafen, lag bäuchlings eine Frau. Sie trug einen kamelfarbenen Mantel, Handschuhe und Schal, eine dunkelblaue Hose und flache Schuhe. Ihre Kleidung war völlig durchnässt. Ihre Arme waren seitlich ausgestreckt, eine behandschuhte Hand lag im Wasser, die andere an Land. Das Gesicht der Frau war dem Fluss zugewandt, und das lange, braune Haar fiel ihr wie ein dunkler Vorhang über die Wange. Kleine Wellen schwappten gegen ihren Körper.
Jacob ging auf die Leiche zu, blieb aber in drei Meter Entfernung stehen. Er wollte den Tatort nicht unnötig verändern, bevor das Team der Spurensicherung eintraf. Er stieß einen tiefen Seufzer aus, der in der eisigen Luft gefror. »Wissen wir, wer sie ist?«
Zack schüttelte den Kopf. »Bisher nicht. In keiner ihrer Taschen war ein Ausweis. Und eine Handtasche haben wir auch nicht gefunden.«
Jacob ging in die Hocke. Er schaute in ihr Gesicht, das größtenteils von dem dichten braunen Haar verdeckt wurde. Wie kam eine sorgfältig gekleidete Angehörige der Mittelschicht hierher? »Flussabwärts gibt es ein paar Brücken und jede Menge Docks. Selbstmord?«
Zack machte ein finsteres Gesicht. »Das dachte der erste Beamte vor Ort auch.«
Jacob runzelte die Stirn. »Und?«
»Als er ankam, hat er ihren Puls gefühlt, dazu musste er die Haare zur Seite schieben.« Zack spannte seine Kiefermuskulatur an. »Um ihren Hals sind dunkle Abdrücke.«
»Erwürgt.«
»Er hat auch an den Handgelenken Male gefunden. Sehen aus wie Scheuerwunden von einem Seil.«
Jacobs Blick wanderte zum Saum ihres Mantelärmels. Gerne hätte er den nassen Stoff hochgeschoben, um die Scheuermale selbst zu sehen, doch er würde auf die Spurensicherung warten. »Hat der Beamte die Tote sonst irgendwo angefasst?«
»Nein. Nur am Hals und am Handgelenk, um den Puls zu fühlen.«
Die Spurensicherung brauchte eine genaue Aufstellung über jeden, der die Leiche berührt hatte. »Gut.«
Jacob betrachtete das Handgelenk des Opfers. »Wer auch immer das getan hat, hat sie gefangen gehalten, bevor er sie getötet hat.«
»Das denke ich auch.«
Das Opfer war vollständig bekleidet, bis hin zu Schal und Handschuhen. Dennoch konnte es sein, dass sie ausgezogen und vergewaltigt worden war. Es kam öfters vor, dass Mörder, besonders beim ersten Mal, dem Opfer gegenüber Reue empfanden. Der Täter könnte versucht haben, ihre Würde zu wahren, indem er sie wieder anzog. »Wir müssen sichergehen, dass
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