Niemand hört dich schreien (German Edition)
geschuftet.«
Nicole legte eine Hand auf ihren Bauch. »Mir sitzt ein Termin im Nacken.«
»Du brauchst Ruhe.«
»Ich ruhe mich doch aus.«
Kendall verdrehte die Augen. »Also bitte. Ich kenne doch deine Arbeitszeiten. Das ist nicht gut für dich und das Kind.«
Nicole senkte den Blick und überprüfte den Akku ihrer Kamera. »Ich dachte, der Schreiner kommt heute.«
Abrupte Themenwechsel waren bei Nicole nicht ungewöhnlich, wenn Kendall das Baby erwähnte. »Er hat um acht angerufen, es gab wohl ein Problem mit einem anderen Auftrag. Er kommt am Freitag.«
»Ganz schön knapp für eine Absage.«
Das sah Kendall genauso. Wäre sie heute früh besser in Form gewesen, hätte sie den Kerl zusammengestaucht. »Na ja, Handwerker lassen einen eben oft hängen.« Sie versuchte, es mit Humor zu nehmen. »Bei der Renovierung der Badezimmer im November hatte ich drei Tage Stillstand, weil ›Schwarzpulversaison‹ war, was auch immer das sein mag.«
Nicole lachte. »Jagdsaison.«
»Um Himmels willen.«
Das Haus war im neunzehnten Jahrhundert erbaut worden, und Nicole hatte es mit dem Geld gekauft, das sie von ihrer verstorbenen Mutter geerbt hatte. Es lag im Fan-Distrikt, dem historischen Viertel der Stadt, und im Grunde war es großartig mit seinen dreieinhalb Meter hohen Decken, dem Parkett, der Treppe mit dem geschwungenen Geländer, dem Stuck und den offenen Kaminen. Doch mit dem altmodischen Charme des Hauses gingen auch eine veraltete Küche und unzumutbare Badezimmer einher. Die Bäder hatte Kendall vor dem Einzug auf den neuesten Stand bringen lassen, aber bei der Küche war das nicht so einfach. Die Renovierung würde teuer werden, und sie wollte nichts übers Knie brechen. Sie hatte vor, Gäste zu bewirten, und dafür brauchte sie eine Küche. Anders als ihre Mutter, die eine wunderbare Köchin gewesen war, reichten Kendalls diesbezügliche Fähigkeiten gerade einmal für das Bedienen der Kaffeemaschine und das Anheuern eines Caterers. Doch trotz ihrer mangelnden Kochkünste war ihr klar, dass die Küche das Herz des Hauses darstellte.
Sie hatte fast den ganzen November mit dem Innenarchitekten zugebracht und danach wochenlang nach einem Schreiner gesucht. Anscheinend hatte sie einen der besten Handwerker der Region an Land gezogen; wie es hieß, war er den Aufwand wert. Bislang war sie allerdings alles andere als beeindruckt.
Nicole betrat die Küche, die Schultern gestrafft, wegen ihres vorgewölbten Bauches jedoch mit schwerfälligem Gang. »Und, für welche Küche hast du dich entschieden? Französisches Landhaus, italienisch oder ultramodern? Ich hab den Überblick verloren.«
Kendall holte ihren schwarzen doppelreihigen Mantel aus dem kleinen Flurschrank neben der Küche und zog ihn über ihr cremeweißes Strickkleid. »Französisches Landhaus.«
Nicole legte die Kamera auf die Arbeitsplatte, nahm einen Teebeutel aus einer Plastikdose und ließ ihn in eine Tasse fallen. Sie füllte sie mit Wasser und stellte sie in die Mikrowelle, dann drückte sie die Zwei-Minuten-Taste. »Du hast Stil und Geschmack.«
Kendall grinste. »Ich weiß.«
Nicole lachte. »Und bescheiden bist du auch.«
Kendall hob eine sorgfältig gezupfte Braue. »In mir ist kein Fünkchen Bescheidenheit, und das weißt du.« Sie gab gerne zu, dass sie schöne Dinge mochte.
»Das schätze ich an dir, Kendall. Du weißt, was du willst, und hast den Mumm, es dir zu holen. Wenn ich mal groß bin, will ich auch so werden wie du.«
Kendall nahm eine große schwarze Coach -Tasche von der Arbeitsplatte, gefüllt mit allem, was sie brauchte, von Make-up, Snacks und Notizblöcken bis hin zu Laptop, Diktiergerät und einem Reserveschal von Fendi. Es war ihre Survival-Tasche. »Das Leben ist zu kurz, um zu zaudern.«
Nicole dachte unwillkürlich an das Baby und wurde ernst. »Stimmt.«
Kendall war zumute, als hätte sie einem Welpen einen Tritt versetzt. Mit ihrer direkten Art war sie eine sehr gute Reporterin, aber nicht gerade eine unkomplizierte Freundin. »Und, was hast du heute vor?« Sie legte so viel Fröhlichkeit wie möglich in ihre Worte.
»Filme entwickeln.« Nicole lächelte und bemühte sich sichtlich, die unguten Gedanken abzuschütteln. »Ich hatte ein großes Shooting mit einer Familie aus der River Road, fünf erwachsene Kinder samt Eltern. Alle mit vollgestopften Terminkalendern – ein logistischer Albtraum. Aber ich habe ein paar gute Bilder zusammenbekommen. Sie werden zufrieden sein.«
»Verwendest du die Fotos
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