Niemand hört dich schreien (German Edition)
auszugehen. In letzter Zeit allerdings machte er des Öfteren Anspielungen auf einen Neubeginn ihrer Beziehung, die sie nach Kräften ignorierte.
»Ich arbeite ein paar Sachen auf.«
Er sah sie argwöhnisch an. »Dann hast du es noch nicht gehört?«
»Was denn?« Sie zog den Mantel aus.
»Es wurde ein Mord im East End gemeldet. Auf dem Gelände der Alderson-Baugesellschaft an der Flussbiegung haben sie eine Leiche gefunden.«
»Wer ist denn ermordet worden?«
»Du hast also wirklich noch nichts davon gehört?«
Brett glaubte offenbar, sie habe Wind von der Story bekommen und sei früher gekommen, damit sie darüber berichten konnte. Kluger Mann. Wenn sie davon gehört hätte, hätte sie tatsächlich genau das getan. »Wer wurde ermordet?«
»Ich weiß nicht. Irgendeine Frau.«
Irgendeine Frau. Irgendeine Frau, die einen Namen gehabt hatte und ein Leben, das nun zu Ende war.
Im letzten Sommer wäre Kendall beinahe gestorben, und das hatte ihre Herangehensweise bei den Storys verändert. Sie nahm mehr Anteil am Leben der Beteiligten, deren Schicksale gingen ihr jetzt näher. »Sie wird doch einen Namen haben.«
Brett blätterte durch die Seiten, die er in der Hand hielt, als suchte er nach einer Antwort. »Bis jetzt noch nicht. Sie wurde noch nicht identifiziert.«
Im letzten Sommer wäre sie selbst beinahe irgendeine Frau gewesen. »Ich möchte das machen«, sagte sie.
»Nein. Ich brauche dich hier am Schreibtisch. Ich werde Ted schicken.«
Seine Reaktion bewirkte nur, dass sie die Story umso mehr wollte. »Ich habe wochenlang nicht mehr vor Ort recherchiert, und sogar du hast gesagt, den Umfragen zufolge mögen es die Zuschauer, wenn ich mitten im Geschehen bin. Außerdem bin ich besser darin als Ted.«
Brett kratzte sich am Kopf. »Die Leute sehen dich gerne bei Wohlfühlveranstaltungen wie bei der Eröffnung der Weihnachtsbeleuchtung in der City. Sie wollen nicht sehen, wie du dich an einem Tatort abmühst.«
»Mal ehrlich, sie werden doch alle einschalten, wenn sie wissen, dass ich an der Story dran bin.« Den nächsten Satz sagte sie höchst ungern. »Seit dem letzten Sommer hatte ich keine harte Story mehr, und sie werden alle wissen wollen, wie ich damit umgehe. Denk an die Einschaltquoten.«
Einschaltquoten. Das war das Zauberwort. »Warum gerade diese Story?«
Sie konnte nicht erklären, was sie selbst nicht verstand. »Ich bin wirklich gut in so etwas, Brett. Das wissen wir doch beide.«
Er betrachtete sie. »Man kann dir nur schwer etwas abschlagen.«
»Ach, komm schon. Es ist doch klar, dass du Nein sagen würdest, wenn du es für eine schlechte Idee hieltest. Und es ist eine super Idee.«
Er grinste. »Na gut, die Story gehört dir.«
Kendall ignorierte entschlossen ihre flatternden Nerven, ging zu einem kleinen Schrank und entnahm ihm ein Paar abgetragene Wanderschuhe, die sie für schwieriges Gelände griffbereit hielt. Das Land um River Bend lag brach und war jetzt schneebedeckt. »Ruf Mike an, er soll schon mal den Wagen vorheizen. Ich bin in fünf Minuten am Eingang.«
Allen beobachtete, wie sie durch die Kälte ging, den Kopf zum Schutz gegen den Wind eingezogen. Die schmalen Hände hatte sie in die Taschen ihres weiten, dunklen Mantels geschoben. Ihre Stiefel waren feucht und schlammverschmiert, der Schal um ihren Hals an den Enden verschmutzt.
Es machte ihn traurig, wenn er daran dachte, wie schwer sie für ihren Lebensunterhalt arbeiten musste. Sie rackerte sich so sehr ab.
So tapfer.
Er wusste außerdem, dass sie einsam und verängstigt war. Neulich nachts hatte er gesehen, wie sie an ihrem Schlafzimmerfenster stand und weinte. Er empfand Mitleid mit ihr. In der großen, weiten Welt war sie verloren. Sie brauchte ihre Familie.
Sie hatte Besseres verdient, genau wie Ruth. Und er beabsichtigte, ihr all das zu geben, was ihr zustand.
Bald würde sie nicht mehr allein sein. Sie würde ein Teil seiner Familie sein. Bald würde sie bei denen sein, die sie so sehr liebten.
Seine Finger kribbelten vor Aufregung. Er brannte darauf, sie zu Ruth zu bringen. Er brannte so sehr darauf, dass er Mühe hatte, den nötigen Abstand zu wahren.
Das Haus war so still, seit er Ruth fortgeschickt hatte. So einsam. Er ertappte sich jetzt oft dabei, wie er durch die Zimmer tigerte. Er verabscheute die Stille und die Art, wie der Wind die Fensterläden zum Quietschen brachte.
Ohne Ruth war das Haus nicht mehr dasselbe. Sie hatte Leben hineingebracht.
Gott, er hasste die Einsamkeit.
Er
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