Eve und der letzte Englaender
Kapitel 1
Eve
Das weiße Blatt Papier vor mir starrte mich an. Ich starrte zurück. Eine Minute lang, fünf Minuten, eine halbe Stunde. Um mich herum hörte ich ab und zu das unterdrückte Räuspern einer meiner Kommilitonen. Ich wusste, ich musste mich zusammenreißen. Das war ja schließlich nicht irgendeine verdammte Klausur heute – nein, heute ging es um alles oder nichts. Magisterabschlussprüfung, Englische Literatur. Ich liebte dieses Fach, hatte seit fünf Jahren meine Zeit und Energie kaum auf etwas anderes verwendet. Und jetzt saß ich hier und wusste nicht wohin mit meiner Leidenschaft für Oscar Wildes „The Picture of Dorian Gray“, wusste faktisch gar nichts mehr. Das weiße Blatt Papier starrte mich immer noch an, fünfundvierzig Minuten waren mittlerweile vergangen. Der Idiot neben mir hatte doch tatsächlich eine kleine Sanduhr auf seinem Tisch stehen. Wie ein manisch Besessener kritzelte er in kleinster Schreibschrift auf seiner bestimmt schon dreißigsten Seite herum. Kalter Schweiß machte sich auf meiner Stirn breit, während ich Streber-Klaus neben mir mit verächtlichen Blicken beobachtete.
„ Ähäm“, hinter mir räusperte sich jemand. Auch das noch – die Klausuraufsicht hatte mich beim „Abschreiben“ ertappt. Ein kurzer Blick auf mein leeres Blatt genügte aber offensichtlich, um mich von jedem Verdacht freizusprechen.
„ Geht es ihnen nicht gut, Frau Hegemann?“
„ Nein, irgendwie nicht“, krächzte ich. Mein Mund war völlig ausgetrocknet, ich blickte an dem merkwürdigen Menschen vor mir mit dem braunen Cordsakko vorbei ins Leere. Ein Gedanke meißelte sich immer und immer wieder in mein Hirn. Der Gedanke, der sich seit drei Wochen nicht mehr aus mir verbannen ließ: Du schaffst das einfach alles nicht. Nicht ohne ihn. Nie. War ich gerade noch völlig abwesend, geriet irgendetwas in mir in diesem Moment vollkommen in Rage.
„ Verdammte Axt, das muss alles endlich aufhören“ – hatte ich das gerade laut gesagt? Vierzig Köpfe drehten sich unvermittelt in meine Richtung, ich schaute kurz auf, riss meine Sachen vom Tisch, stürzte auf meine Tasche, die mit all den anderen am Ausgang deponiert war, zu und verschwand durch die Tür.
Als ich zu mir kam, saß ich schon in der Bahn, orientierungslos und immer noch dem Verdursten nahe. „Nächster Halt: Flughafen. Next stop: Frankfurt Airport“. Shit, und auch noch in die falsche Richtung unterwegs! Wieder machte sich in mir das Gefühl der Unfähigkeit breit, die für einen kurzen, wundervollen Moment betäubt gewesen war. In mir kochte wieder die Wut hoch, auf mich, auf ihn, der mich einfach so im Stich gelassen hatte, in so einem wichtigen Augenblick meines Lebens, an dem alles hätte gut werden können. So dachte ich zumindest. Das Spiegelbild in der S-Bahn-Tür verriet mir, dass ich zu allem Überfluss auch noch genauso scheiße aussah, wie ich mich fühlte. „Na toll“, murmelte ich wohl etwas zu laut vor mich hin. Der Typ neben mir musste das gehört haben, jedenfalls grinste er unaufhörlich in sich hinein. Ich warf ihm durch die Scheibe einen möglichst bösen Blick zu, musste aber sofort feststellen, dass ich mit meinen verstrubbelten, wild abstehenden Haaren und den vor lauter Aggression ganz rot angeschwollenen Backen eher aussah wie Rumpelstilzchen nach dem dritten Wutanfall. Damn!
„ Wann hält diese blöde S-Bahn denn endlich mal an“, zischte ich vor mich hin, und verwünschte die Sekunde, in der ich mich heute Morgen doch noch überwunden hatte, aufzustehen. Der Typ glotze immer noch. Vermutlich dachte der sich, ich würde gleich in meinen nächsten Tourette-Anfall ausbrechen, was auch durchaus der Fall hätte sein können, wäre der Zug nicht endlich an der Station zum Halten gekommen. So schnell wie ich hier raus wollte, bemerkte ich gar nicht, dass Mr. Observer im gleichen Moment wie ich den Türöffner drückte. Unsere Hände berührten sich ganz kurz, die Tür ging auf. Na super, jetzt hatte er mich auch noch kontaminiert. „Sorry“, raunte er in meine Richtung. Immerhin, Anstand hatte er. Und einen ziemlich britischen Akzent. Gut, die Tatsache, dass sein Riesentrolley, den er nun verzweifelt hinter sich herschleppte, mit dem Union Jack bedruckt war, hätte es mich erahnen lassen können. Aber ganz ehrlich: Dafür hatte ich bisher einfach in meinem kleinen Anfall nicht den Blick gehabt.
Mein Gepäck hielt sich ja glücklicherweise in Grenzen, schließlich wollte ich
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