Niemand hört dich schreien (German Edition)
einen Schluck Tee. »Sonst schläfst du doch immer wie eine Tote.«
Als Kind konnte Kendall den ganzen Tag in Bewegung sein, hatte ihre Mutter immer erzählt. Doch sobald ihr Kopf am Abend das Kissen berührte, schlief sie ein und wachte erst am nächsten Morgen wieder auf. Das war immer so gewesen – bis letzten Sommer. »Ich weiß.«
»Was hat dich denn wach gehalten?«
»Probleme bei der Arbeit. Ich stehe wegen der Verhandlungen für die neue Show ein bisschen unter Strom. Bestimmt nur vorübergehend. Ich muss wohl das Koffein etwas reduzieren.«
»Und sonst läuft es gut beim Sender?«
»Bestens. Ich liebe die Arbeit.« Das entsprach im Großen und Ganzen der Wahrheit. Doch ihr fehlte der Kick, den ihr die Arbeit als Live-Reporterin gegeben hatte.
»Keine gefährlichen Storys mehr?«
Im vergangenen Sommer war Kendall bei der Jagd nach der Story über den »Hüter« hohe Risiken eingegangen. Damals hatte sie darauf gebrannt, dass die großen Fernsehsender auf sie aufmerksam wurden. Sie wollte einen anderen Job und fort aus Richmond. Nachdem der Hüter sie jedoch angeschossen hatte, war der Drang verschwunden, vor der Vergangenheit zu fliehen. Inzwischen war es sogar andersherum. Sie hatte begonnen, immer mehr über ihre Vergangenheit nachzudenken, und als die Stelle bei den Abendnachrichten frei wurde, hatte sie zugegriffen.
»Letzte Woche habe ich live von der Frauenmesse berichtet«, neckte sie Nicole. »Die Kaltentwachsung war echt haarig.«
Diesmal ließ sich Nicole nicht durch Kendalls Scherze ablenken. »Bist du sicher?«
»Ja. Keine schlimmen Storys mehr für mich.« Kendall schaute auf die Uhr, entschlossen, ihre Ängste beiseitezuschieben. Der Traum war nur ein Traum. »Ich muss zum Sender und mich auf die Abendnachrichten vorbereiten.«
Nicole schien zu spüren, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte, hakte aber nicht nach. »Klar. Ich wünsche dir einen schönen Tag.«
»Wenn was ist, ruf mich an.«
»Mach ich.«
Kendall winkte Nicole zu und verließ das Haus durch die Hintertür. Ihre hohen Absätze knirschten auf dem Splitt, den sie nach dem Schneesturm auf der Veranda gestreut hatte. Vorsichtig ging sie die Stufen hinunter und über den spiegelglatten Gehweg zur Garage. Dann stieg sie in ihren schwarzen BMW , der neben Nicoles zerbeultem Toyota stand. Als sie den Motor anließ, sah sie, dass das Thermostat minus fünf Grad anzeigte.
Sie drückte auf einen Knopf. Das Garagentor glitt nach oben, sie legte den Rückwärtsgang ein und fuhr auf den schmalen Schotterweg, der die Häuser in ihrer Straße von denen in der Parallelstraße trennte. Zerstreut schaute sie hinüber zu dem leerstehenden Haus direkt hinter ihrem und zu dem Verkaufsschild am Zaun. Sie schaltete in den ersten Gang, dann beschleunigte sie und bog in die Seitenstraße.
Zehn Minuten später war sie beim Sender angelangt, stieß die Eingangstür von Channel 10 auf und winkte der Empfangsdame zu. »Hi, Sally. Wie läuft’s an der Front?«
Die blonde junge Frau hatte gerade erst ihr Journalistikstudium abgeschlossen. Sie lächelte breit. »Prima.«
»Schön.« Kendall eilte durch den Gang zu ihrem Büro, vorbei an den riesigen Fotos von ihr selbst und den anderen Moderatoren des Senders. Sie ließ die Handtasche auf ihren ordentlich aufgeräumten Schreibtisch fallen. Nachdem sie den Job übernommen hatte, hatte sie einen Maler engagiert und die Wände blassviolett streichen lassen. Sie hatte Kunstdrucke, ein paar Zimmerpflanzen und einen Orientteppich mitgebracht. Anstelle der Neonbeleuchtung benutzte sie zwei Stehlampen und eine Schreibtischlampe. Das einst sterile Büro wirkte jetzt behaglich.
Ihr Chefredakteur, Brett Newington, erschien in der Tür. »Was führt dich denn so früh hierher?«
Seine markanten Gesichtszüge, das dichte blonde Haar und sein durchtrainierter Körper verliehen ihm einen jungenhaften Charme, und genau der war Kendall vor zwei Jahren aufgefallen. Sie waren zusammengekommen, und zunächst war alles wunderbar gewesen. Sie schienen perfekt zueinander zu passen. Dann war Kendalls Mutter an Krebs erkrankt. Kendall hatte ihre Wohnung gekündigt und war zu ihr gezogen, um sie zu pflegen. Brett hatte ihr übel genommen, dass sie so viel Zeit mit ihrer Mutter verbrachte, und plötzlich hatte Kendall gemerkt, dass ein markantes Gesicht und maßgeschneiderte Hemden nicht genügten.
Sie hatte Schluss gemacht. Zunächst schien er erleichtert und hatte sogar begonnen, mit anderen Frauen
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