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Niemand kennt mich so wie du

Niemand kennt mich so wie du

Titel: Niemand kennt mich so wie du Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna McPartlin
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selbst zu beschimpfen, erzählte sie der Lily in ihrem Kopf sämtliche Kleinigkeiten und widrigen Ereignisse aus ihrem Alltag. Sie schilderte ihr zum Beispiel den Morgen, als sie dachte, ihr Bruder Clooney wäre auf dem Klo gestorben, weil er nicht antwortete, als sie unter wüsten Beschimpfungen gegen die Tür hämmerte. Mit überkreuzten Beinen stand sie vor dem Bad, hielt sich den Bauch und überlegte, ob sie lieber in die Spüle oder unter den Baum im Garten pinkeln sollte. Die Spüle siegte. Kannst du das glauben, Lily? Ich habe in unsere Küchenspüle gepinkelt. Der Garten ging auf gar keinen Fall, weil man von den Noonans aus zu uns rüberschauen kann und wir schließlich alle wissen, dass Terry «der Tourist» ein perverser Spanner ist, der ständig sein Fernglas und die alte Polaroidkamera zur Hand hat. Ich wollte nicht riskieren, dass mein Hinterteil künftig seine Wände ziert! Eve erinnerte sich daran, dass Clooney, zehn Minuten, nachdem sie in die Spüle gepinkelt hatte, mit einem Mädchen und selbstgefälligem Blick im Gesicht aus dem Bad kam, während sie bis zu den Ellbogen in Desinfektionsmittel und Seifenlauge steckte. Sie hätte ihm am liebsten eine gescheuert, doch diesen Wunsch hatte die achtzehnjährige Eve sehr häufig, was den zwanzigjährigen Clooney betraf. Stattdessen schrie sie nur, sie würde alles ihrem Vater erzählen, sobald der nach Hause käme. Clooney lachte sie aus, und als sie der Lily in ihrem Kopf davon erzählte, lachte die ebenfalls. Lily und Clooney hielten zusammen wie Pech und Schwefel.
    Damals hatte Lily sich auf den Rat der Beratungslehrerin Mrs.   Moriarty hin entschieden, an die medizinische Hochschule zu gehen und Medizin zu studieren. Ihr gefiel die Vorstellung, Ärztin zu sein, aber sie wollte niemanden aufschlitzen, und Gynäkologin zu werden kam erst recht nicht in Frage, weil sie und Eve der einhelligen Meinung waren, dass der weibliche Intimbereich ekelhaft war. Außerdem war die Arbeit als Allgemeinmedizinerin kinderfreundlicher. Solange Eve denken konnte, wollte Lily Mutter werden, und die beiden waren schon als Krabbelkinder Freundinnen. Lily spielte mit ihrer Puppe, bis sie zehn Jahre alt war. Ihre Puppe hieß Layla, und Lily behandelte sie wie einen echten Menschen. Als Lilys Lehrerin Mrs.   Marsh anfing, sich Sorgen zu machen, Layla könnte Lily in ihrer psychologischen Entwicklung behindern, machte Lilys Mutter dem Unsinn ein Ende und gab die Puppe der Caritas. Lily weinte eine ganze Woche lang, und Eve versuchte, sie zu trösten, indem sie ihr ihren eigenen kostbaren Stoffaffen schenkte, doch schon während sie Lily das Äffchen in den Arm drückte, wurde ihr klar, dass Layla unersetzlich war. Also nahm Eve ihr Äffchen wieder mit nach Hause, drückte es die ganze Nacht lang an sich und versprach, es niemals wieder herzugeben.
    Eve war schon immer fest entschlossen gewesen, Designerin zu werden. Sie nähte, seit sie zwölf war. Sie liebte es, sich Stoffe zu besorgen, zu zeichnen und zu nähen. Unnötig zu erwähnen, dass die kleine, zierliche Lily, die selbst aussah wie ein Puppe, das perfekte Modell war. Mochten Design oder Zusammenstellung auch noch so schrecklich sein, Lily trug Eves Kreationen immer. Eves Arbeit wurde über die Jahre immer besser. Nach fünf Jahren gewann sie ihren ersten Designpreis und durfte daraufhin vier Debütantinnenkleider entwerfen und im Auftrag einer Cousine zweiten Grades ihres Vaters ein Kommunionskleid. Noch ehe sie ihr Abschlusszeugnis in Händen hielt, hatte sie sich mit dem bequemen Polster eines ansehnlichen Wertpapierdepots im Rücken einen Studienplatz am St. Martin’s College of Design in London gesichert. Lily war das klügste Mädchen der Klasse. Sie meisterte die Schule, ohne sich groß anzustrengen, und konnte daher neben dem Unterricht Kurse in Fotografie, Kunst und Klavier belegen. Sie war in allem, was sie tat, einfach gut, und das galt, sehr zu Eves Entrüstung, sogar fürs Nähen. Doch ihr fehlte Eves kreative Ader, und so kamen sie sich nie in die Quere.
    «Du wirst mal den ganz großen Durchbruch schaffen», sagte Lily immer zu Eve.
    «Ja», stimmte Eve ihr dann zu. «Coco Chanel hat jetzt schon die Hosen voll.»
    Sie wussten beide, dass Lily, falls kein unvorhergesehener Hirnschaden dazwischenkam, den Medizinstudienplatz an der Universität ihrer Wahl bekommen würde. Sie machte ihre Präferenzen jedoch von der Entscheidung ihres Freundes Declan abhängig, was Eve wirklich auf die Nerven ging, weil

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